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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Häuptlingen angeführt wird? Wer soll hier in einem Cambridge, in einem Oxford und, was noch wichtiger ist, in den Grundschulen Recht und Moral, Anstand lehren? Die Kinderseelen mit Ehrfurcht vor anderen und deren Besitz erfüllen? Ich sehe diese Lehrer nicht, und ich erkenne auch keine diesbezüglichen Absichten.
    Ich beobachte die Russen, ihre Aufmärsche, ihr Verhalten. Wir wissen so wenig über dieses Volk! Fünfundzwanzig Jahre lang haben die Russen geschwiegen, und wir wurden über sie belogen. Jetzt dämmert mir etwas … es ist mehr ein Gefühl als Wissen.
    Wie ist ihr Verhältnis zueinander, zu uns, zur Familie, zum Zuhause, zum Privatbesitz? Ich sehe bereits, dass es anders ist als unsere Beziehung zu diesen Werten; nicht so starr. Sie nehmen zum Beispiel auf der Landstraße jemandem ein Fahrrad weg, fahren eine Zeit lang damit, dann geben sie es weiter … ihr Aufmarschieren ist trotz jeder Zielstrebigkeit lockerer, ungezwungener als das der Deutschen; mit diesen Wägelchen, diesen Karren und Pferden sind sie von der Wolga bis zur Donau getrottet; zwischendurch machen sie manchmal für zwei, drei Wochen irgendwo halt, schlagen eine große Schlacht, dann wochenlang wieder nichts. Sie ziehen weiter, in neue Schlachten, neuen Kriegszielen entgegen; nicht ungeordnet, aber auch nicht in so verkrampfter, maschinengleicher Ordnung wie die Deutschen; trottend, auf Pferdewagen, mit Gulaschkanonen, deren Ofenrohre in den Himmel ragen; die deutschen Gulaschkanonen sind wahre Panzer, Dampfmaschinen … Auf diese Weise schleppen sie alles, was man zum Krieg braucht, wie ein riesiger herumstreunender Wanderzirkus mit sich; und sie schlagen sich hervorragend. Sie nehmen einem die Uhr weg, aber am liebsten zerlegen sie sie dann. Sie sind ungezwungener, wollen nicht um jeden Preis »besitzen« und behalten; sich nur etwas aneignen, so dahinleben und spielen. Sie sind sehr stolz auf die narodni kultura , doch ein wenig so wie der Neger auf den Zylinder. Und nebenbei ist es möglich, dass sie heute samt und sonders gebildeter sind, als sie vor fünfundzwanzig Jahren waren, oder gebildeter als unsere Bauern … Familie, Zuhause, all das existiert für sie oder auch nicht; im schicksalhaften Sinn unserer Wörter sicher nicht; diese Begriffe sind für sie nicht so eindeutig und unabänderlich. Und wahrscheinlich sind auch die Begriffe Leben, Tod und Individuum für sie nicht so krampfhaft wertvoll. All das fühle ich eher, als dass ich es erfahre.
    Diese ungarische Gesellschaft hat so grauenvolle Verbrechen begangen, dass an dem Tag, da sie zwischen den Ruinen zur Besinnung kommt und die wirkliche Lage erkennt, ihr verzweifeltes Schuldbewusstsein nur neue Wut gebären kann; sie wird, lautstark oder insgeheim, auf all jene wütend sein, die hiergebliebene Corpora delicti ihrer Verbrechen sind, auf die Juden und alle anderen, die sie an ihre Verbrechen erinnern. Je himmelschreiender ein Verbrechen, desto peinlicher ist es, wenn Indizien der Schandtat zurückbleiben.
    Der kompromittierte Teil der Gesellschaft eilt im ersten Trubel der Besatzung zu den Russen, um sich mit ihnen anzufreunden; glaubt, mit dieser verdächtigen Willfährigkeit schon alles wiedergutgemacht und in Ordnung gebracht zu haben. Und die Russen reagieren auf diese Anbiederung mit gleichgültiger, ein wenig spöttischer und verächtlicher Gutmütigkeit.
    Den Russen liegt überhaupt nichts an dieser Gesellschaft; sie wollen von uns auch nichts Besonderes; sie überlassen es nach dem Krieg dem Land selbst, sich im Einflussbereich von Moskau eine Lebensweise zu suchen, die der Wesensart des Landes entspricht; mit einer, sagen wir, halb roten, halb demokratischen gesellschaftlichen und politischen Ordnung werden sie sich wahrscheinlich zufriedengeben, etwa so wie in der Tschechoslowakei vor dem Krieg …
    Nein, die Abrechung wird hier drinnen stattfinden, viel später; vielleicht nach dem Krieg; und so schlaff, weich und verdorben das ungarische Material auch ist, es wird dennoch eine Abrechnung geben, zurückreichend bis in längst vergangene Jahrhunderte; und diese Abrechung wird Moskau ohne Gefühlsduselei beobachten, auch wenn es unschuldige Opfer gibt – und die wird es geben.
    Aber du, verlang nicht nach irgendeiner »Abrechnung«. Du rechne nur mit dir selbst ab, mit diesem besonderen Jemand, der hinter jeder deiner Masken steckt, wahrhaftiger als das Selbstbewusstsein und das Gewissen; der gleichgültig und unparteiisch ist, der das Böse nicht hasst und

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