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Schweiß.
Er geht die ganze Übungsfolge durch und bemerkt Linda erst, nachdem er einen langsamen, schwerfälligen Lotustritt ausgeführt und wieder die Grundhaltung eingenommen hat. Während er einen Moment durchatmet, schaut er sich langsam im Zimmer um, wobei er wie ein heiliger Narr grinst.
Sie trägt einen karierten Hausmantel und hat ihr Haar in ein zerschlissenes Handtuch gehüllt.
Über ihre knochigen Fußgelenke und die langen, 89
schmalen Füße perlt Wasser. »Art! Verdammt noch mal, Art! Was zum Teufel war das denn?«
»Tai-Chi«, erwidert er, atmet durch die Nasen-löcher tief ein, wobei er spürt, wie sich die Rippen nacheinander weiten, und durch den Mund wieder aus. »Das mache ich, wenn ich mich abregen und lockern will.«
»Es war wunderschön! Art! Art. Art. Das war …
Also wirklich, meine Güte. Inspirierend oder so was. Du musst mir unbedingt zeigen, wie das geht, Art, ja? Du musst.«
»Ich könnte es versuchen, aber ich bin eigentlich nicht qualifiziert, anderen Leuten Tai-Chi bei-zubringen. Hab ja selbst seit zehn Jahren keinen Unterricht mehr gehabt.«
»Ach, halt den Mund, Art. Du kannst es mir beibringen, Mann, du kannst es, das weiß ich ganz genau. Das war – meine Güte.« Sie läuft zu ihm, greift nach seinen Händen, drückt sie und sieht ihm in die Augen. Danach legt sie sich seine Hän-de fest auf die Hüften, zieht seinen Brustkasten an ihre Brüste und streckt das Kinn so hoch, dass ihre lange Kieferlinie hervortritt, die ein bisschen an die eines Pferdes erinnert. Aber sie hat kein Pferde-gesicht, sondern schöne, deutlich ausgeprägte, klare Züge. Als Art Lindas Shampoo und das San-delholzpuder riecht, läuft ihm plötzlich ein gewaltiger, fast hörbarer Schauer über die Haut.
In den letzten fünf Tagen sind sie fast ununter-90
brochen zusammen gewesen, so dass er sich schon völlig auf ihren Geruch, ihre Körpersprache und die subtilen Signale ihrer beweglichen Mimik eingestellt hat. Sie steht in Flammen, er steht in Flammen. Ihre Körper kommunizieren in einer Geheimsprache miteinander, die aus wechselseitiger Anziehungskraft und den unbewussten Bot-schaften der Pheromone besteht. So langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, neigt er ihr das Gesicht zu. Millimeter für Millimeter, bis seine Bartstop-peln – er hat sich eine Woche nicht rasiert – ihre Nase kitzeln. Jetzt öffnen sich seine Lippen und ihr Atem befeuchtet sie, taucht sie in die konden-sierte Flüssigkeit des von der Dusche noch damp-fenden Körpers.
Seine Oberlippe streift ihre Unterlippe. Diese Berührung ist so erfüllend, dass er es ohne Frust dabei belassen könnte. Lange verharrt er so und ist dabei wunschlos glücklich, doch dann schiebt er sich näher an sie heran, lässt auch seine Unterlippe spielen und legt den Kopf schräg.
Und in diesem Moment meldet sich sein Komset.
Sein Komset klingelt, obwohl es ausgeschaltet ist.
Scheiße.
»Hallo!«, sagt er. Besser gesagt: brüllt er hinein.
»Arthur?«, fragt eine Stimme, die alt, verletzt und traurig klingt. Die Stimme seiner Oma. Seine 91
Oma kann den Klingelton aktivieren und sein Komset aus der Entfernung einschalten, denn Art ist ein lieber Enkel. Schließlich hat seine engelsgleiche, zerbrechliche (depressive, melodramatische, besitz-ergreifende) Großmutter ihn fast allein großgezogen. Selbstverständlich lässt sein Komset ihre Anrufe durch. Nicht weil er ein Waschlappen, sondern weil er loyal und sensibel ist und seine Oma liebt.
»Hallo, Oma! Tut mir leid, ich war gerade mit etwas anderem beschäftigt.« Er wirft einen Blick auf sein Komset und stellt fest, dass es in Toronto erst sechs Uhr früh ist, in London dagegen schon Mittag. Auf der Datumsanzeige sieht er, dass heute der 28.04. ist, der Tag, an dem seine Oma jedes Jahr anruft, wie er hätte wissen müssen.
»Du hast es vergessen.« Es klingt nicht vorwurfsvoll, nur müde, traurig und enttäuscht. Er hat es tatsächlich vergessen.
»Nein, Oma, ich hab’s nicht vergessen.«
Was gelogen ist. Es ist der achtundzwanzigste April 2022, und das bedeutet, dass der Tod seiner Mutter auf den Tag genau einundzwanzig Jahre zurückliegt. Und er hat es vergessen.
»Schon gut. Du warst beschäftigt, das verstehe ich. Sag mir, Art, wie geht’s dir überhaupt? Wann bist du wieder mal in Toronto?«
»Mir geht’s gut, Oma. Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab, aber ich bin krank.« Scheiße. Voll daneben gelangt.
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»Du bist krank? Was hast du denn?«
»Ach, nichts
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