Upload
geraten ist?! Ehe mich das Geräusch weckte, wäre ich fast in einen REM-Zyklus eingetaucht. Ich hatte nämlich so etwas wie einen Wachtraum. Es war der alte Traum, der Traum von der Arztpraxis und den älteren Kindern, die den Trick beherrschten, ein Bild in die Wirklichkeit zu holen.
Doch das Geräusch machte mich sofort hellwach und mir war klar, dass ich nicht so bald wieder einschlafen würde. Also ging ich in meinem winzigen Zimmer auf und ab, roch an den schö-
nen Blumen, die mir mein Cousin und meine Cousine aus Toronto mitgebracht haben, als sie mich letzte Woche besuchten, und suchte am Horizont nach ersten Anzeichen der Morgendämmerung.
Ich sehnte mich verzweifelt nach meinem Komset und einem netten Privatkanal, denn dann hätte 78
ich andere mit Dreck bewerfen und mich selbst mit Dreck bewerfen lassen können, wäre auf si-chere, unverbindliche Weise mit anderen Menschen zusammengetroffen.
Auf der Station schimpfen sie mit mir, weil ich gern Auseinandersetzungen führe. Sie nennen mich einen Streithammel und versuchen mich kalt-zustellen, indem sie mich nach meinen Beweg-gründen fragen – eine Taktik, die meiner Meinung nach fast so beschissen ist, wie rationalen Argu-menten dadurch auszuweichen, dass man auf die Tränendrüse drückt. Ich habe hier niemanden, mit dem ich mich unterhalten kann – die anderen Patienten rasten aus oder nicken einfach ein, je nach Medikation, und das Personal bevormundet mich nur.
Vier Uhr früh, und ich drehe allmählich durch.
In meinem Kopf beschleunigen die Hamster ihre Laufräder auf tausend Umdrehungen pro Minute und keifen sich gegenseitig an. Außerdem schnaube ich wie ein Bulle – wenn ich bei der Einlieferung noch nicht verrückt war, kann es jetzt nicht mehr lange dauern.
Die Hamster werden nicht müde, mir all die schrecklichen Fehleinschätzungen aufzulisten, die mich letztendlich in diese Klapsmühle gebracht haben. Ich habe nicht nur dem Stamm vertraut, sondern auch Unbekannten. Ständig graben sie weitere Argumente aus, die meine Blindheit bele-79
gen. Mein Gott, wäre doch bloß ein anderer Mensch hier. Dann könnte ich mit ihm über die Definition geistiger Gesundheit streiten, über die moralische Rechtfertigung von Zwangseinweisun-gen, über das Essen. Mein Kopf ist voller Streitlust, die ich nicht abreagieren kann, und sehr bald werde ich laute Selbstgespräche führen und mit der Luft streiten – genau wie die Schizos auf der Station, die Tag und Nacht grummeln, kreischen und nach ihrer Mama rufen.
Warum habe ich London nicht verlassen, als ich es noch konnte? Warum bin ich nicht heimge-kehrt, bei Oma eingezogen und habe mir einen anständigen Job gesucht? Warum habe ich die ganze Geheimnistuerei und Provokation nicht einfach links liegen lassen?
Ich war schlauer, als mir selbst gut getan hat.
Hab stets Gründe dafür gefunden, geile, futuristi-sche Sachen zu machen, anstatt einfach ein nettes, prosaisches, an keinen Stamm gebundenes Leben zu führen. Zu schlau dafür, mich irgendwo niederzulassen, eine Stelle anzutreten, nach der Arbeit vor der Glotze zu hocken, jedes Jahr zwei Wochen im Ferienhaus zu verbringen und im Netz nur zu surfen, um Kinoprogramme abzurufen.
Wenn man allzu schlau ist, bedeutet das, stets ruhelos und niemals glücklich zu sein, denn ständig sucht man ebenso zwanghaft wie ziellos nach dem nächsten Kick.
80
Was ist wichtiger: die eigene Klugheit oder das Glück?
Inzwischen sind die Hamster von ihren Laufrädern gehopst und nagen an der Blut-Hirn-Schranke, um sich aus meinem Schädel zu befreien. Das hier ist eine Klinik mit hohen Standards.
Trotzdem gibt es auf diesem Stockwerk nur Ge-meinschaftstoiletten. Und das bedeutet, dass meine Tür nicht abgeschlossen ist und ich mein Zimmer verlassen kann. Doch sobald ich die Tür öffne, leuchtet im Schwesternzimmer am Ende des Ganges ein Lämpchen auf. Und dieses Lämpchen blinkt wie irre, wenn ich die Tür nicht binnen der Viertelstunde, die sie einem für die Pinkelpause gönnen, wieder hinter mir zuziehe. Schon am ersten Tag habe ich ausgeknobelt, wie man das System austricksen kann, aber das war reine Theorie. Jetzt ist es an der Zeit, sie praktisch zu testen.
Als ich vor die Tür trete, färbt sich deren Schwelle zuerst rosa, dann rot ein. Sobald sie tiefrot leuchtet, tapse ich wupp-wupp-wupp zur Toilette, trete ein, warte ab, gehe wieder auf den Flur hinaus und zu meiner Zimmertür zurück (inzwischen leuchtet die Schwelle orangerot), öffne die Tür,
Weitere Kostenlose Bücher