Urangst
Hauses, sandte das Leuchtfeuer an der Spitze des Leuchtturms sein konzentriertes Licht aus, so kraftvoll und stumm wie ihr nach wie vor stummer Schrei, und warnte Seeleute, die auf dem tiefen Atlantik unterwegs waren.
Da der Bogen des Lichts aus Rücksicht auf die Bewohner der Küste auf 180° Grad beschränkt war, hellte der Leuchtturm die Nacht hier im Westen nicht auf. Nur ein mattes gespenstisches Pulsieren seines Strahls fiel auf den Schnee, zu schwach, um Schatten hervorzubringen.
Sie suchte die Nacht mit Blicken ab, um Michael zu finden, konnte ihn aber nicht sehen – und dann sah sie ihn. Er rannte auf die Wälder zu.
Sie gab ihren vierten Schuss ab, und Möwen stoben von den Dachtraufen der hohen Brüstung des Leuchtturms auf, flogen in ihrer Verwirrung nach Westen, schwenkten dann über ihrem Kopf nach Osten um und erhoben sich hoch in den Himmel.
Michael war außer Reichweite der Pistole, und sie rannte hinter ihm her. Sie würde nicht mehr auf ihn schießen, bis sie nicht näher an ihn herangekommen war.
Sie holte einen Teil seines Vorsprungs auf, wie sie im Voraus gewusst hatte, denn er war verwundet und sie nicht, und sein Antrieb war die Angst, ihrer die Wut.
Als er die Wälder erreicht hatte, gab Amy wieder einen Schuss ab, aber Michael ging nicht zu Boden, und die Bäume schlossen sich enger um ihn und hießen ihn in ihrem Dunkel willkommen.
Jetzt schien es ihr, als sei der Traum ihrer goldigen Tochter wahr geworden, Nickies Traum, dass sie sich in den Wäldern verirren würde. Ihr Vater hatte sie nicht nur ihres Lebens, sondern auch ihrer Seele beraubt, und er würde sie im Wald fortwerfen, wo sie für alle Zeiten umherwandern müsste, barfuß und furchtsam.
Wenn dieser Gedanke auch noch so verrückt war, er drängte Amy doch zehn Schritte in den Wald hinein, bevor sie stehen blieb. Vor ihr lagen tausend Pfade durch die Nacht, ein Labyrinth von Bäumen.
Sie lauschte, hörte aber nichts. Entweder er lauerte ihr in diesem Labyrinth auf oder er war schon weit genug auf einem Pfad geflohen und wusste, dass sie ihn nicht rennen hören konnte.
Wenn er auf der Lauer lag, würde sie es riskieren, überrumpelt zu werden, denn in dem anschließenden Kampf könnte sie es schaffen, ihn zu töten.
Wenn er andererseits tief genug in die Wälder eingedrungen war, wenn er einen Wagen am anderen Ende des Waldes abgestellt hatte, an der Landstraße, dann würde sie ihm, indem sie seine Verfolgung aufnahm, nur zum Gelingen seiner Flucht verhelfen.
Widerstrebend und voller Verzweiflung trat sie den Rückweg an und rannte zum Haus, um die Polizei zu verständigen.
Sie hatte die Stufen zur Veranda schon fast erreicht, als ihr klarwurde, dass ihre Schüsse aus keinem der beiden Häuser jemanden hervorgelockt hatten. Weder James noch Ellen Avery und ebenso wenig die Haushaltshilfe Lisbeth oder das Kindermädchen Caroline.
Sie waren alle tot, und sie war die einzige Überlebende.
58
Harrow steht auf dem felsigen Abhang über dem Strand und beobachtet, wie die Nebelwand über das Meer vorrückt.
Wenn der Nebel trostlos genug ist, wenn über dem tieferen Dunst der Himmel selbst mit schwarzen Wolken gepanzert und die Sonne daher doppelt verhängt ist, dann ist der automatisierte Leuchtturm darauf programmiert, seinen Strahl schon vor Anbruch der Dunkelheit auszusenden.
Die Ingenieure der Küstenwache wissen es nicht, aber Harrow hat gelernt, die Sensoren zu verwirren und zu verhindern, dass die Lightshow bei diesem Wetter früher losgeht. Kein starkes Lichtsignal wird ihre eintreffenden Besucher warnen.
Da er neun Jahre darauf gewartet hat, die harte Arbeit jener Nacht zu beenden, kann er es jetzt kaum erwarten, Amy das gewetzte Messer zu zeigen, dasselbe, das er damals benutzt hat. Er hofft, sie wird es wiedererkennen und, während es in sie hineingleitet, wissen, dass das Los ihrer Tochter schließlich doch auch ihr eigenes Los ist.
Es kann gut sein, dass sie das Messer erkennt, bevor sie ihn erkennt. Im Lauf der zwei Jahre, die er in Brasilien verbracht hat, ist viel an seinem Gesicht getan worden.
Rio ist weltweit führend in plastischer Chirurgie und kann sich der besten kosmetischen Chirurgen rühmen, die in solcher Zahl nirgendwo sonst zu finden sind. Von allen Kontinenten reisen Menschen dorthin, um sich verjüngen zu lassen und zu genesen.
Als er nach zwei Jahren mit einem anderen Namen und einem anderen Gesicht in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, hatte er seine Suche nach Amy
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