Urangst
Nicht wegen der Mordfälle in den Nachrichten.
Es war eine Selbsttäuschung, die ihr erlaubte, weiterhin zu glauben, ihr Leben sei nur vorübergehend auf einen schlechten Schienenstrang geraten und nicht vollständig entgleist.
Wenn ihre Furcht mordwütigen Fremden gegolten hätte, hätte sie zumindest James Avery gesagt, dass sie die Pistole erworben und Unterricht genommen hatte. Sie hätte die Waffe in ihrem Nachttisch untergebracht, wo sie jederzeit in Reichweite gewesen wäre – und wo die Haushaltshilfe sie gesehen hätte. Sie hätte sie nicht in einer unbenutzten Handtasche ganz hinten in einer Kommodenschublade versteckt, in der sie ihre gesamten Handtaschen aufbewahrte.
Sie kam sich vor, als bewege sie sich nicht in der Welt des Wachens, sondern in einem Traum, und das Licht reichte gerade aus, um zu verhindern, dass sie gegen Möbelstücke stieß, als sie auf die Kommode zuging und die Handtasche herausholte, die ihr als Pistolenhalfter diente.
Als Amy sich von der Kommode abwandte, hörte sie das leise Quietschen des Türknopfs und drehte sich keuchend
um, gerade noch rechtzeitig, um ihn eintreten zu sehen. Seine Augen leuchteten in dem düsteren Zimmer wie Eis auf Stein im Mondlicht. Michael.
Angeblich war er geschäftlich in Argentinien und würde frühestens in sechs Tagen zurückkommen.
Er sagte kein Wort und sie auch nicht, denn die äußeren Umstände, seine Augen und sein gespenstisches Hohnlächeln waren Formulierungen in einem endlosen Satz zum Thema Motiv und Gewalttätigkeit.
Schnell war er. Und brutal. Er schlug sie, und sie taumelte rückwärts und die Griffe der Schubladen bohrten sich in ihren Rücken. Aber die Handtasche hielt sie noch umklammert.
Er knüppelte sie mit einer Faust nieder, zielte auf ihr Gesicht, erwischte sie aber seitlich am Kopf, und sie fiel auf die Knie. Aber die Handtasche hielt sie noch umklammert.
Michael packte mit einer Hand ihr Haar und zog sie daran auf die Füße. Sie war von einem derartigen Entsetzen gepackt, dass sie keinen Schmerz wahrnahm.
Dann sah sie das Messer. Wie groß es war.
Er war noch nicht bereit, die Klinge einzusetzen, aber er riss an ihrem Haar, um sie umzudrehen, und sie drehte sich wie eine hilflose Puppe.
Als Michael ihr einen festen Stoß versetzte, wankte sie rückwärts von ihm fort, fiel und wäre beinah mit dem Kopf gegen eine Kommode geschlagen. Aber die Handtasche hielt sie noch umklammert.
Sie riss den Reißverschluss der Handtasche auf, griff hinein, drehte sich auf den Rücken und drückte ab, wie es ihr beigebracht worden war.
Der Schuss zerschmetterte etwas und verfehlte Michael, der schockiert vor ihr zurückwich.
Sie gab einen zweiten Schuss ab, er floh, und in der Tür zwischen Schlafzimmer und Flur schrie er vor Schmerz auf, als der dritte Schuss ihn traf. Er wankte, aber er ging nicht zu Boden, und dann war er verschwunden.
In Notwehr und zur Verteidigung Unschuldiger ist Töten kein Mord, Zögern keine Moral und Feigheit die einzige Sünde.
Sie rannte ihm nach, da sie sicher sein konnte, dass er nicht tödlich verwundet war, aber wild entschlossen, ihn tödlich zu treffen.
In den Flur fiel Licht aus Nickies Zimmer.
Im Uhrwerk ihres Herzen zog der Schlüssel des Grauens die Hauptfeder auf, bis über den Punkt hinaus, an dem sie überspannt war, und der Schrei, der sich ihr entrang, war stumm, vollkommen stumm, denn ihre Lunge war plötzlich so leer, wie es die Welt um sie herum zu sein schien, keine Spur von Luft mehr, ein Vakuum in einem Vakuum.
Mit steifen Armen hielt sie die Pistole in beiden Händen vor sich hin, als sie in Nickies Zimmer ging. Michael war nicht dort.
Er war schon vorher dort gewesen, und was Amy sah, waren die Folgen. Ein Anblick, der sie vor Entsetzen taumeln ließ und sie augenblicklich vor Kummer verkrüppelte, ein Anblick, der sie fast dazu brachte, sich die Pistole selbst in den Mund zu stecken und ihren vierten Schuss zu schlucken.
Aber wenn es ihr in diesem Moment auch vollkommen egal war, ob sie sich selbst in die Hölle sandte, so war sie doch wild entschlossen, ihn dorthin zu schicken.
Sie schien nicht in den Flur und die Treppe hinunterzurennen, sondern zu fliegen, und in der Eingangshalle fand sie die Haustür weit offen vor.
Es war ganz ausgeschlossen, dass sie noch am Leben war, dass ihr eigener glühender Todeswunsch sie nicht getötet hatte, und doch lief sie aus dem Haus, über die Veranda, die Stufen hinunter und in die Nacht hinaus.
Im Osten, jenseits des
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