Urangst
anspitzte, wurde die erwartungsvolle Stille nur von dem forschen Schaben des X-acto-Messers durchbrochen.
Als das nicht identifizierbare Geräusch am lautesten erklungen war, war es ihm nicht etwa deshalb grauenhaft erschienen, weil es ihm Angst einjagte – das tat es, zumindest ein wenig –, sondern weil es auf eine gewaltige Macht schließen ließ, die Demut forderte.
Nachdem er während eines Tornados geboren worden war, hatte Brian gehörigen Respekt vor dem Chaos, das die Natur hervorbringen konnte, und vor der plötzlichen Ordnung – oder nennen wir es Schicksal –, die häufig offenbar wurde, wenn das scheinbare Chaos sich aufklärte. Dieses eigentümliche Geräusch mit seinen vielen Elementen hatte etwas Chaotisches an sich; doch er erahnte in ihm sein Schicksal.
Als die Bleistifte gespitzt waren, wandte er sich wieder der Zeichnung zu.
Wenige Momente später, als sich das Geräusch wieder einstellte, war er sich ziemlich sicher, dass es von oben gekommen war. Vielleicht vom Dachboden.
Die Zeichnung zog ihn jedoch von neuem hypnotisch in ihren Bann und wieder fühlte er, dass eine Offenbarung dicht bevorstand. Den Ursprung des Geräuschs zu suchen war eine weniger dringliche Aufgabe als die Fertigstellung des wie Blütenblätter angelegten Musters aus Licht und Schatten im Zentrum des Bildes.
Er beugte sich vor. Die Zeichnung schien sich auseinanderzufalten und sein Gesichtsfeld auszufüllen.
Nachdem er ein paar weitere Minuten daran gearbeitet hatte, strich ein Schatten über das Blatt. Er war zwar formlos und flink, doch er löste in Brian eine Alarmbereitschaft aus, die dem ähnelte, was er beim ersten – und lautesten – der Geräusche empfunden hatte. Abrupt sprang er vom Stuhl auf.
Da es dort nur ein Fenster mit Gardinen gab, wäre es in der Küche ohne die Deckenlampe düster gewesen.
Ein Falter konnte um die Lampe herumgeflogen sein und dabei einen überdimensionalen Schatten auf das Blatt geworfen haben. Nichts anderes als ein Falter hätte so lautlos herabstoßen können.
Brian drehte sich im Kreis und sah sich in der Küche um. Wenn das Insekt sich irgendwo niedergelassen hatte, dann würde er es kaum entdecken.
Zu seiner Rechten, am Rande seines Gesichtsfeldes, sah er einen weiteren Schatten bebend an der Wand hinaufgleiten. Oder er glaubte zumindest, ihn gesehen zu haben. Er drehte den Kopf, hob den Blick, sah nichts …
… und dann sah er flüchtig einen Schatten, der sich in
Windeseile über den Fußboden schlängelte. Oder er glaubte zumindest, ihn gesehen zu haben.
Sein Blick senkte sich auf die unfertige Zeichnung, doch seine Hände zitterten zu sehr, um einen Bleistift benutzen zu können.
Wachsam blieb Brian mitten in der Küche stehen. Keine weiteren Schatten flohen um ihn herum, aber der eigentümliche Laut ertönte schwach aus einem anderen Raum der Wohnung.
Er zögerte, bevor er die Küche verließ.
Als er sich im Flurspiegel sah, entsetzte ihn sein Spiegelbild. Sein Gesicht war blass bis auf die aschgrauen Ringe unter seinen blutunterlaufenen Augen.
Am Ende des Flurs blieb er unter einer Deckenluke stehen, die zum Dachboden führte. Um den vertieft eingelassenen Griff zu erreichen, würde er eine Trittleiter brauchen.
Je länger er die Deckenluke ansah, desto mehr wuchs seine Überzeugung, dass in dem Raum über ihm etwas kauerte oder mit dem Kopf nach unten an einem Dachbalken hing und lauschte.
Die Erschöpfung schärfte seine Vorstellungskraft, während sie gleichzeitig seinen Verstand trübte. Seine Vernunft hatte ihn im Stich gelassen. Nichts anderes als Staub erwartete ihn auf dem Dachboden, Staub und Spinnen.
Er hatte in den letzten sechsunddreißig Stunden nur eine Stunde geschlafen. Das besessene Zeichnen über Stunden hinweg hatte ihn zusätzlich ausgelaugt.
Im Schlafzimmer streckte er sich, ohne sich auszuziehen, auf seinem zerwühlten Bett aus, aus dem ihn Amys Anruf vor fast zwölf Stunden herausgeholt hatte.
Die Jalousien waren geschlossen. Ein Fächer grauen Lichts fiel aus dem Flur durch die offene Tür.
Seine Augen brannten und juckten, doch er schloss sie nicht. Keiner der gesprenkelten Schatten an der Decke bewegte sich.
Aus seiner Erinnerung stieg die kristallklare Stimme des Kindes auf, die in keltischer Sprache gesungen hatte.
Ihre Augen, blau mit einem starken violetten Einschlag.
Carl Brockmans Augen wie die Läufe von Schrotflinten.
Das Wort Schweinehirte auf dem Bildschirm seines Computers.
Obwohl er Ruhe dringend nötig
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