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Urangst

Urangst

Titel: Urangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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hatte, graute Brian davor, die Augen zu schließen. Er hatte die verrückte Vorstellung, der Tod warte nur darauf, ihn im Schlaf zu ereilen. In seinen Träumen würde sich eine geflügelte Geistererscheinung auf ihn herabstürzen, seinen Mund mit ihrem bedecken und den Lebensatem aus ihm heraussaugen.

22
    Die Mittagszeit ist schon vorbei, als Harrow nach mehr als fünf Stunden Schlaf erwacht, nicht in dem fensterlosen Raum, in dem sie immer Sex haben, sondern in dem komfortabelsten Schlafzimmer des gelben Backsteinhauses.
    Die dichten Vorhänge sind zugezogen, aber er weiß sofort, dass Moongirl bereits aufgestanden ist. Ihre Gegenwart hätte der Dunkelheit eine unverkennbare Note verliehen, weil ihre Stimmung, die eines fortwährend drohenden Unwetters, den natürlichen Luftdruck spürbar erhöht.
    In der Küche kocht er starken Kaffee. Durch ein Fenster sieht er sie auf diesem kleinen Fleckchen Gras, das sich in einem Felsenmeer ungemein grün ausnimmt.
    Mit seinem dampfenden Kaffeebecher in der Hand geht er zur Haustür hinaus. Das Wetter ist für einen späten Septembertag warm.
    Das gelbe Backsteinhaus ist in einer Landschaft aus beigefarbenem Granit verankert. Rund geschliffene Steinformationen, wie die Knöchel von Riesenfäusten, drängen sich am Rande der sonnenüberfluteten gepflasterten Terrasse dicht zusammen.
    Harrow überquert rissige, von der Witterung geglättete Felsplatten, um zu dem Fleckchen Gras zu gelangen. Im Laufe der Jahrhunderte hat der Wind Erdreich in eine tiefe, ovale, abschüssige Einkerbung im Granit geweht und später Samen dort gesät.

    Inmitten des grasbewachsenen Ovals ragt eine fünfundzwanzig Meter hohe Montezuma-Kiefer auf, deren große, ausgebreitete Zweige die Mittagssonne mit Büscheln aus anmutig herabhängenden fünfundzwanzig Zentimeter langen Nadeln filtern.
    In gefiederten Schatten und Sonnenflecken mit ausgefransten Rändern sitzt Moongirl auf einer Decke und ist sich bewusst, dass sie einen geradezu überirdischen Anblick bietet. Selbst in dieser dramatischen Landschaft ist sie Mittelpunkt und Leitstern. Sie zieht seinen Blick so unwiderstehlich an, wie die Schwerkraft einen fallen gelassenen Stein auf den Grund eines Brunnens zieht und ihn im tiefen Dunkel versinken lässt.
    Sie trägt nur einen schwarzen Slip und um den Hals eine schlichte, aber kostspielige Diamantkette, die Harrow ihr geschenkt hat. Sie ist reif, aber geschmeidig, mit sonnengebräunter Haut und der selbstgefälligen Ausstrahlung einer in sich ruhenden Katze. Mit Schatten und goldenem Licht gesprenkelt erinnert sie ihn an eine ruhende Leopardin, die gerade eine frische Beute erlegt hat und nun satt und zufrieden ist.
    Männer haben ihr so lange Zeit so viel gegeben, dass sie Geschenke mit der gleichen Selbstverständlichkeit erwartet, mit der sie damit rechnet, bei jedem Atemzug, Luft in sich aufzunehmen: als ein naturgegebenes Recht. Sie nimmt jede Gabe, selbst die verschwenderischste, mit nicht mehr Dank entgegen als das Wasser, das aus der Leitung fließt, wenn sie den Hahn aufdreht.
    Neben ihr steht ein schwarz lackiertes Kästchen, das mit rotem Samt ausgeschlagen ist; darin bewahrt sie ein Sortiment von Nagellacken, Scheren, Feilen, Knipsern und anderen Instrumenten zur Pflege ihrer Nägel auf.
    Obwohl sie nie zur Maniküre geht, sind ihre Fingernägel enorm gepflegt und erlesen geformt, wenn auch kürzer und
spitzer zugefeilt, als es derzeit Mode ist. Mit Vergnügen widmet sie sich dieser Beschäftigung stundenlang.
    Ihre Furcht vor der Langeweile kehrt sie nach innen. Moongirl erscheinen andere Menschen so flach wie Schauspieler auf dem Bildschirm eines Fernsehers und sie ist unfähig, sich vorzustellen, dass andere ihre Dimension besitzen. Die Außenwelt ist grau und leer, aber ihr Innenleben ist reich.
    Harrow setzt sich mit gehörigem Abstand zu ihrer Decke aufs Gras, da sie in Momenten wie diesem keine Signale aussendet, die zu Nähe ermuntern. Er trinkt seinen Kaffee, sieht zu, wie sie ihre Fußnägel lackiert, und fragt sich, was ihr wohl durch den Kopf geht, wenn sie in einer solchen Träumerei versunken ist.
    Er wäre nicht erstaunt, wenn er erführe, dass in diesem Augenblick kein einziger bewusster Gedanke sie belastet – dass sie sich in einem Trancezustand befindet.
    Seine anfänglichen Bemühungen, sie zu verstehen, haben ihn etwas entdecken lassen, das Automatismus genannt wird. Dabei handelt es sich um einen Zustand, in dem das Verhalten nicht vom Bewusstsein gesteuert wird,

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