Urangst
hatte Mut gefasst und war nicht zurückgewichen.
Das arme Ding war in einer jämmerlichen Verfassung, sein Fell verfilzt und schmutzig, als sei es ausgesetzt worden und hätte sich allein durchschlagen müssen oder als sei es misshandelt worden. Und doch lächelte es, als es schwach und erschöpft und sichtlich mit Schmerzen auf sie zukam.
Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es sich um einen Golden Retriever handelte oder dass die Liebhaber der Rasse diesen Ausdruck als »das goldene Lächeln« bezeichnen, mit dem diese Tiere so gar nicht geizen und das sich so sehr von dem falschen Lächeln eines Hundes unterscheidet, der nur hechelt.
Als Amy eine Hand nach dem Golden ausstreckte, knurrte er nicht und schreckte auch nicht vor ihr zurück, sondern kam stattdessen noch einen Schritt näher und leckte ihre Hand auf eine Weise, die ihr vom ersten Moment an wie ein dankbarer Kuss vorkam.
Als sie den Spielplatz überquerte und diesen vierbeinigen Findling zum Wohngebäude des Waisenhauses führte, begegnete Amy auf halber Strecke Schwester Angelica, und dann brachen Hektik und Aufregung aus, da eifrige Kinder zusammenströmten, um den verwundeten Hund zu sehen, den Amy Harkinson auf der Wiese aufgelesen hatte.
Schwester Agnes Maria, die für die Krankenstation des Klosters verantwortlich war, rückte mit einer Ärztetasche
an. Sie fand eine Glasscherbe, die tief zwischen den Ballen in der linken Hinterpfote des Hundes steckte, zog sie heraus und behandelte die Wunde mit einer desinfizierenden Lösung.
Obwohl der Hund verdreckt, von Flöhen befallen und ausgemergelt war, waren die Kinder sofort einhellig der Meinung, er sollte das Maskottchen der Schule werden und für den Rest seines Lebens hier wohnen dürfen.
Mater Misericordiae hatte sich bis dato noch nie eines Maskottchens erfreut und die Schwestern bezweifelten, dass das eine gute Idee war. Außerdem beabsichtigten sie, alles zu tun, um den Besitzer ausfindig zu machen, obwohl der Hund kein Halsband trug.
Nachdem sie den versammelten Kindern beteuert hatten, der Hund würde nicht ins Tierheim geschickt, wo er nach einer Weile eingeschläfert werden könnte, wenn niemand Anspruch auf ihn erhob, vertrieb Schwester Angelica alle aus dem Hof, weil das Abendessen im Refektorium bereitstand.
Amy ging nicht gleich, sondern trottete mit Abstand hinter Schwester Angelica und Schwester Claire Marie her, die ihren neuen Schutzbefohlenen zu dem betonierten Arbeitsbereich vor der Wäscherei führten, die sich hinter dem Wohntrakt befand. Dort gaben sie dem Hund Wasser zu trinken und überlegten hin und her, wie sie ihn baden könnten.
Als Schwester Claire Marie Amy bemerkte, erinnerte sie das kleine Mädchen noch einmal daran, dass sie alle aufgefordert worden waren, sich zum Abendessen einzufinden. Widerstrebend trat Amy den Rückzug an.
Der Hund hatte das Verschwinden der anderen Kinder kommentarlos hingenommen, doch als Amy zögernd fortging, fing er an zu winseln. Jedes Mal, wenn sie über ihre
Schulter blickte, sah der Hund sie an, mit gerecktem Kopf und leicht angehobenen Ohren. Sie konnte sein dünnes Wimmern selbst dann noch hören, als sie schon um die Ecke des Gebäudes gebogen war.
Amy hatte das Abendessen auf ihrem Tablett kaum angerührt, als Schwester Jacinta – die wegen ihrer lieblichen hohen Stimme von den Kindern heimlich Schwester Maus genannt wurde – ins Refektorium kam, um sie wieder auf den betonierten Platz vor der Wäscherei zu holen.
Der Hund hatte nicht aufgehört zu winseln, seit Amy fortgegangen war. Aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung mit den Manipulationstechniken, die gerissene Waisenkinder anwandten, waren die Nonnen nicht leicht zu übertölpeln. Aber das Winseln des Hundes war derart jämmerlich gewesen, dass sie sich ihm nicht verschließen konnten.
Als Amy eintraf, verstummte der Hund sofort, lächelte und wedelte mit dem Schwanz.
Während der Dämmerung und bis in den Abend hinein beschäftigte sich eine schnatternde Schar von Schwestern eifrig mit dem Hund. Sie schnitten die grässlich verfilzten Klumpen aus seinem Fell, schrubbten ihn zweimal mit Shampoo und bereiteten ihm dann ein drittes Bad mit der Flöhe mordenden Lösung, die Pater Leo in ihrem Auftrag schleunigst in der Stadt besorgt hatte.
Wenn Amy sich mehr als zwei Schritte von ihm entfernte, winselte der Hund, und daher beteiligte sie sich schließlich an den Maßnahmen zu seiner Säuberung.
Da sie mittlerweile hoffnungslos in den Hund vernarrt war
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