Urangst
ihrem Bad säubert sie schmutzige Putzlappen im Waschbecken.
Dann geht sie an die Tür und lauscht. Stimmen. Sie sind weit weg, vielleicht so weit wie die Küche.
Mutter und der Mann bleiben auf, solange es dunkel ist. Sie schlafen, wenn die Sonne kommt.
Es ist sicherer, Das Schlimmste, Was Sie Tun Kann, erst dann zu tun, wenn sie schlafen. Aber gerade jetzt wünscht sie es sich so sehr.
Sie wünschte, sie hätte ein Fenster, aus dem sie hinausschauen könnte. Manchmal leben sie an Orten, wo sie den Himmel sehen kann.
Ihre Fenster haben jetzt Holz davor. Sonne kommt durch ein paar Ritzen, aber sie kann nicht hinausschauen.
Wenn sie den Himmel sehen könnte, könnte sie warten, bevor sie Das Schlimmste tut. Sie fühlt sich sofort besser, wenn sie den Himmel sieht.
Der Himmel ist am besten, wenn die Dunkelheit rauskommt. Er wird tiefer. Dann kannst du sehen und du denkst daran, was Bär gesagt hat.
Bär fehlt ihr. Sie vermisst ihn mehr als alle Fenster, die es jemals gab oder niemals geben wird. Sie wird Bär immer vermissen.
Sie bringt sich dazu, manche Dinge zu vergessen, aber bei ihm wird sie es nicht tun, ihn wird sie nie vergessen.
Sie mag den Mond. Sie mag die Sterne. Sie mag Sternschnuppen, denn da darf man sich etwas wünschen.
Wenn sie eine Sternschnuppe sehen könnte, würde sie sich ein Fenster wünschen. Aber vorher braucht sie ein Fenster, damit sie eine Sternschnuppe sehen kann und einen Wunsch frei hat.
Bär hat ihr beigebracht, wie man sich von einer Sternschnuppe etwas wünscht. Bär wusste alles. Er war nicht so blöd wie sie.
Lass dein Herz sich nicht erschrecken, Piggy.
Bär hat das oft gesagt.
Und er hat auch gesagt: Am Ende wendet sich alles zum Besten, wenn es auch noch so schwer zu glauben ist.
Du brauchst bloß zu warten. Auf ein Sandwich ohne ein totes Insekt oder einen lebendigen Wurm oder einen Nagel darin. Du wartest und manchmal kommt ein gutes Sandwich. Warte auf ein Fenster. Warte.
Die Küchenstimmen sind immer noch Küchenstimmen, du kannst die Wörter auf diese Entfernung nicht hören. Vielleicht besteht keine Gefahr.
Der breite Polstersessel hat ein Sitzkissen. Das Kissen hat einen Bezug. Der Bezug hat einen Reißverschluss.
In dem Bezug, unter dem Sitzpolster, ist Das, Was Ewig Glänzt, verborgen.
Ewig bedeutet all die Tage, die es jemals geben wird, und dann nochmal so viele. Bär hat es ihr erklärt.
Ewig bedeutet ohne Anfang und ohne Ende. Ewig bedeutet, Gutes kann dir zustoßen, all die schönen Dinge, die du dir ausdenken kannst, weil für all das genug Zeit da ist.
Wenn genug Zeit für all die schönen Dinge da ist, die du dir ausdenken kannst, ist dann auch genug Zeit für all die schlimmen Dinge da, die du dir ausdenken kannst? Werden sie auch alle passieren?
Sie hat Bär diese Frage gestellt und er hat Nein gesagt. So läuft das nicht, hat er gesagt.
Auch Piggy ist ewig. Das hat Bär gesagt.
Sowie sie Das, Was Ewig Glänzt, in der Hand hält, fühlt Piggy sich besser. Sie fühlt sich dann nicht mehr so allein.
Alleinsein ist besser als mit Mutter und dem Mann.
Aber Alleinsein ist schwer.
Alleinsein ist sehr schwer.
Sie erinnert sich an kaum etwas anderes als das Alleinsein. Bevor Bär da war, wusste sie nicht, wie schlimm das Alleinsein ist.
Sie fühlt sich Bär nah, wenn sie Das, Was Ewig Glänzt, in ihrer Hand hält. Jetzt hält sie es ganz fest.
Bär hat es ihr gegeben. Ein Geheimnis. Mutter darf es nie erfahren. Wenn Mutter das herausfindet, wird sie furchtbar garstig werden.
Hier auf dem Sessel, wo sie Das, Was Ewig Glänzt, schnell in den Kissenbezug stopfen kann, tut Piggy Das Schlimmste, Was Sie Tun Kann.
Vielleicht wird sie erwischt werden, und daher hat sie Angst. Dann fürchtet sie sich nicht mehr.
Das Schlimmste, Was Sie Tun Kann, nimmt ihr immer die Furcht. Für eine Weile.
Diesmal muss sie vorsichtig sein. Ihr Zeitgefühl ist nicht gut. Manchmal erscheint ihr ein kurzer Moment wie eine ganze Menge Zeit. Manchmal vergeht eine Menge Zeit im Handumdrehen.
Wenn sie die Zeit vergisst, wird sie sich treiben lassen; das kommt oft vor, und dann wird sie auch vergessen, auf das Quietschen des Riegels zu lauschen.
Sie ist ein Weilchen stumm, sagt aber, was sie auf dem Herzen hat.
Sag immer, was du auf dem Herzen hast, Piggy. Das ist das Beste, was du tun kannst.
Sie hat alles gesagt, was sie zu sagen hatte. Jetzt fühlt sie sich nicht mehr so allein wie vorher.
»O Bär«, sagt sie.
Manchmal denkt Piggy, wenn sie seinen Namen
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