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Urangst

Urangst

Titel: Urangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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gnadenreiche Mutter – wieder einmal ihrem Namen Ehre und nahm Nickie für den Rest ihres Lebens bei sich auf.
    Obwohl die Hündin als Maskottchen in allen Gebäuden außer der Kirche frei herumlaufen durfte – aber selbst dorthin wurde sie oft eingeladen –, schlief sie jede Nacht vor Amys Bett. Für die nächsten elf Jahre war sie Amys Schatten, Amys Vertraute und Amys große Liebe.
    Im Laufe jener Jahre erreichte keines der mehr als dreihundert Mädchen, die in diesem Zeitraum zur Gnadenreichen Mutter kamen, den Bekanntheitsgrad, den die einst schüchterne und schweigsame Amy Harkinson erlangt hatte, keine von ihnen hatte mehr Freundinnen als sie und keine bekleidete mehr Posten in der Schülerverwaltung. Für mehr als ein Jahrzehnt war keine von ihnen häufiger als Amy in jedem Jahrbuch abgebildet – außer Nickie natürlich, deren grinsender Kopf mindestens jede zweite Seite schmückte. Die Hündin trat in Schüleraufführungen auf, trug bei Weihnachtsfeiern eine Nikolausmütze, Hasenohren zu Ostern und am vierten Juli eine amerikanische Flagge als
Halstuch, und sie war immer von Mädchen, die sie anhimmelten, und von strahlenden Nonnen umringt.
    Amy war sechzehn, als die sonst so energiegeladene Nickie eines Tages müde wirkte, am nächsten Tag immer noch müde war und am dritten Tag schließlich lethargisch wurde. Der Tierarzt diagnostizierte ein Hämangiosarkom, eine Form von Krebs, der sich schnell ausbreitet und so weit fortgeschritten war, dass er von einem Chirurgen nicht mehr vollständig herausgeschnitten oder durch Chemotherapie in Schach gehalten werden konnte.
    Es ging schnell bergab. Außerdem stand fest, dass sie leiden würde, wenn man ihr nicht die Gnade erwies, die unschuldigen Tieren zugestanden wird. Und natürlich konnte niemand es ertragen, sie leiden zu sehen.
    Da Gott nie grausam ist, gibt es für alles einen Grund. Wir müssen den Schmerz des Verlustes erfahren, denn wenn wir ihn nie erfahren würden, hätten wir kein Mitgefühl mit anderen und würden zu überheblichen, egozentrischen Ungeheuern. Der entsetzliche Schmerz des Verlustes lehrt unsere hochmütige Gattung Demut und besitzt die Macht, gefühllose Herzen zu erweichen. Selbst einen guten Menschen macht er zu einem besseren.
    Mater Misericordiae war nicht nur ein Waisenhaus, sondern auch eine gute Schule. Nickies Sterben bot eine Gelegenheit, nicht nur gemeinsam eine wichtige Erfahrung zu machen, sondern auch daraus zu lernen.
    Die Mädchen, die sich stark genug fühlten – und das waren die meisten –, wurden eingeladen, sich in der Abenddämmerung auf dem rechteckigen Hof zu versammeln, wo die Frage, ob Tiere eine Seele besitzen, nicht einmal angeschnitten, sondern stillschweigend als Tatsache akzeptiert wurde. Gemeinsam sprach man Gebete für Nickie. Und während der Gebete, als das Abendlicht verblasste, wurden
Kerzen angezündet. Inmitten dieser Versammlung kniete Amy neben ihrer besten Freundin, um ihr Trost zu spenden und Zeugnis abzulegen.
    Schwester Agnes Mary von der Krankenstation hatte sich freiwillig erboten, Dr. Shepherd, dem Tierarzt, bei der Verabreichung der beiden Spritzen zu assistieren. In der ersten würde ein Sedativum sein, das Nickie in einen tiefen Schlaf versetzte, und die zweite würde das Medikament enthalten, das den endgültigen Herzstillstand herbeiführte.
    Nickies Lieblingssofa aus dem Aufenthaltsraum war schon vorher in den rechteckigen Hof gebracht worden, und Nickie war derart geschwächt, dass sie dorthin getragen werden musste. Amy kniete sich auf den Boden und sah dem ersten Hund, den sie gerettet hatte, ins Gesicht.
    Da man sie auf etwa drei Jahre geschätzt hatte, als sie hinkend über die Wiese auf Amy zukam, musste Nickie in der letzten Abenddämmerung ihres sagenhaften Lebens etwa vierzehn Jahre alt gewesen. Trotzdem hatte sie immer noch wie ein Welpe ausgesehen und kaum Weiß im Gesicht gehabt.
    Amy, die selbst erst sechzehn war, fand eine Kraft in sich, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß: Die Kraft, mit ruhiger und tröstlicher Stimme zu reden, obwohl sie die Tränen nicht zurückhalten konnte.
    Als wollte sie sagen: Es ist alles in Ordnung, du machst deine Sache prima, leckte Nickie Amys Finger, wie sie es in jenem ersten Moment getan hatte, als die beiden sich auf der Wiese begegnet waren. damals ein Kuss zur Begrüßung und jetzt ein Abschiedskuss.
    Nickie hatte es immer besonders gern gemocht, wenn man ihr Gesicht fest zwischen den Händen hielt und mit den

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