Urban Gothic (German Edition)
hielt den Atem an, fand seitlich an der Taschenlampe den Schalter und drückte ihn. Heather wurde beinahe ohnmächtig, als das Licht anging. Eher schwach, doch im Vergleich zur völligen Schwärze, in der sie sich noch einen Moment zuvor befunden hatte, wirkte der Strahl, der den Raum mit Helligkeit flutete, blendend grell. Pünktchen tanzten vor Heathers Pupillen. Sie schloss kurz die Augen, schlug sie wieder auf und wartete ab, bis sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Sobald sie wieder etwas erkennen konnte, schaute sie sich um.
Sie befand sich in einer großen runden Kammer mit Tunnelöffnungen am vorderen und hinteren Ende. Tatsächlich bedeckte eine dicke Lage Streugut den Boden – zerfetzte Zeitungen und Magazine, Streifen alter Decken, Zettel und Kleider, Glasfaserisoliermatten und ähnliche weiche Dinge. Heather verspürte einen bizarren Anflug von Stolz darüber, dass sie allein durch Betasten erkannt hatte, worum es sich handelte. Dazwischen lagen vereinzelt alte, kaputte Spielzeuge herum – ein Müllwagen, dem ein Rad fehlte. Eine Puppe, deren Füllung aus den Nähten quoll. Schimmlige Holzklötze.
Mit wachsendem Grauen begriff Heather, dass sie sich in einer Art Kinderzimmer befand.
Sie rappelte sich auf die Beine und eilte weiter, stolperte dem Ausgang entgegen. Der Geruch fühlte sich wie eine Wand an, doch sie achtete nicht länger darauf. Sie senkte den Kopf, atmete durch den Mund und zwang sich, in Bewegung zu bleiben.
Heather verließ das Kinderzimmer und setzte den Weg fort. Der nächste Gang erwies sich als kurz – mehr eine Nische als ein richtiger Tunnel. Er führte zu einer noch größeren Kammer. Sie blieb stehen und leuchtete mit der Taschenlampe die Umgebung ab. Die Sicht wurde klarer ... und beunruhigender. Vor ihr befanden sich Abfallhaufen, Türme aus Dreck und kaputten Möbeln, außerdem gesplittertes, von Wasser aufgeschwemmtes Holz, rostige Blechdosen, Glasflaschen, Kleidungsfetzen und etwas, das nach Leder aussah. Nichts davon neu, sondern vom Alter gezeichnet und fast zur Unkenntlichkeit verrottet. Der Unrat stand so tief unter Wasser, dass man den Boden nicht erkennen konnte. Heather fächelte mit der Hand vor ihrer Nase. Das Wasser fand sie am schlimmsten – eher schlammig als flüssig. Sie schwenkte den Strahl der Taschenlampe darüber und erblickte die matten Regenbögen von abgestandenen Verunreinigungen und Kotklumpen. Und noch etwas anderes.
Knochen.
Das Wasser strotzte vor menschlichen Überresten – allesamt blanke Knochen ohne Fleisch. Kein einziges vollständiges Skelett. Hier ein gebrochener Oberschenkel. Dort ein eingedrückter Brustkorb. Auch ein gesplitterter halber Schädel grinste sie aus der dreckigen Brühe an.
Heather unterdrückte einen Aufschrei und richtete den Lichtstrahl auf die stinkenden Abfallberge. Zu ihrer Überraschung wiesen die Haufen Löcher auf – künstliche Höhlen. Es handelte sich um Iglu-ähnliche Gebilde aus Unrat und Erde, verputzt mit altem Zeitungspapier und anderem Müll. Tief in den schwarzen Verstecken regten sich Gestalten, aufgescheucht von ihrer Anwesenheit.
Irgendwann hatte Heather mit dem Gedanken gespielt, Tierärztin zu werden. Dieser Lebenstraum war verblasst, als sie danach in rascher Abfolge beschloss, Krankenschwester, Friseuse und letztlich Anwältin zu werden. Schließlich gestand sie sich dann ein, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, was sie nach dem Abschluss machen wollte. Dieses Eingeständnis hatte weder ihre Eltern noch den Schulberater davon abgehalten, ihr Ratschläge zu erteilen. Aber während der kurzen Zeit, in der sie sich mit einer Karriere in der Veterinärmedizin beschäftigt hatte, sah sich Heather jede Natursendung an, die sie im Fernsehen finden konnte, und sog jede Einzelheit in sich auf. In der Tierwelt herrschten bestimmte Regeln. Als sie daran dachte, während sie auf dieses abscheuliche Labyrinth vor ihren Augen starrte, erkannte sie, dass die Regeln der Natur hier nicht bloß gebrochen, sondern völlig über Bord geworfen wurden.
Die Natur kümmerte sich um gewisse Dinge. Wenn in der Wildnis ein deformiertes Wolfs- oder Bärenkind zur Welt kam, wurde es mit großer Wahrscheinlichkeit als Akt der Gnade sofort getötet, denn das Leben war weder fürsorglich, noch begünstigte es die Schwachen. Als die Kreaturen aus ihren Unterschlupfen hervorgekrochen kamen, verstand Heather, womit sie es zu tun hatte. Die anderen Kreaturen hier – jene, die ihre Freunde getötet und
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