Urban Gothic (German Edition)
elenden Scheißer und hatte jeden ihrer Grunzlaute und jeden ihrer Schreie der Überraschung und des Schmerzes genossen. Wer immer diese Leute sein mochten – denn ungeachtet ihrer Missbildungen handelte es sich bei Noigel und seinen Kumpanen eindeutig um Menschen –, sie waren offensichtlich nicht daran gewöhnt, dass sich ihre Beute wehrte. Bis er den Gürtel verloren hatte, schlug er sich wacker. Danach waren sie ihm zu nah gekommen, seine Angst hatte die Tapferkeit überwältigt und ihn zur Flucht gedrängt.
Was im Anschluss daran passiert war, fiel ihm nicht mehr ein, sosehr er auch versuchte, sich an Details zu erinnern, also quälte er sich nicht länger mit Nachdenken. Behutsam tastete er seinen Körper ab und zuckte zusammen, als seine Finger auf Dutzende kleiner Schnitte und Schwellungen stießen. Dennoch glaubte er nicht, allzu schwer verletzt zu sein. Er lauschte und hoffte, Heather, Kerri oder Brett zu hören, aber in der Finsternis herrschte Stille. Die Dunkelheit schien sich gegen ihn zu pressen, als versuche sie, auf seinen Körper zu klettern. Im Geiste stieß Javier sie zurück. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es zumindest keine ernsthaften Verletzungen gab, klopfte er den Boden ab. Dann streckte er den Arm in die schwarze Leere. Seine Finger berührten eine Steinwand.
Abrupt fiel es ihm wieder ein. Er war voll dagegengerannt, ohne zu merken, worum es sich handelte, nicht einmal lang genug bei Bewusstsein geblieben, um darüber nachzudenken. Er hatte nur noch mitbekommen, wie er gegen etwas Hartes prallte. Später war er aufgewacht. Vermutlich hatte ihn die Wucht des Aufpralls in die Ohnmacht getrieben.
Schon zweimal in dieser Nacht hatte sich das Glück auf seine Seite gestellt – zuerst in der Scherbengrube und nun in dieser ... was immer es sein mochte. Er nahm an, dass es sich um eine Art Höhle handelte, natürlich oder von Menschenhand geschaffen. Vielleicht auch beides.
Er bewegte sich zur Wand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Stille wurde bedrückend. Es fehlte jede Spur von seiner Freundin oder dem Rest der Clique. Auch von ihren Verfolgern. Er schien völlig allein zu sein. Die Erkenntnis erfüllte ihn mit Schuldgefühlen und Besorgnis. Javier fühlte sich für die Gruppe verantwortlich. Nein, er konnte nichts dafür, dass sie in diesem Schlamassel steckten, doch so, wie er es sah, standen die anderen unter seinem Schutz. Und sie hätten das Haus erst gar nicht betreten, wenn er es im Anschluss an Bretts dämlichen Gefühlsausbruch nicht vorgeschlagen hätte.
»Was hab ich mir nur dabei gedacht?« Er murmelte die Worte vor sich hin und spuckte einen Faden aus Speichel und Schlamm von den Lippen. »Wir hätten uns diesen Typen stellen und bei ihnen für unseren idiotischen Freund entschuldigen sollen. Oder an Ort und Stelle die Polizei anrufen müssen.«
Er tastete nach Bretts Mobiltelefon. Beim letzten Angriff hatte er es noch in der Hand gehalten, nun war es verschwunden. Javier versuchte, sich zu erinnern, ob er es im Laufen in die Tasche gesteckt hatte. Keine Ahnung. Jetzt steckte es jedenfalls nicht mehr darin. Javiers Mut sank. Es musste ihm bei der Flucht aus den Fingern gefallen sein, möglicherweise auch bei der Kollision mit der Wand. Er tatschte den Boden ab und suchte danach, doch ohne Erfolg. Seine Finger fanden nichts. Verwirrung, Angst und Verzweiflung bemächtigten sich Javiers. Heather, Brett und Kerri konnten tot sein, und er hatte sich unter der Erde in völliger Finsternis verirrt, ganz ohne Waffen zur Verteidigung.
»Ach was, scheiß drauf.«
Javier lauschte dem Echo seiner Worte. Wo immer er sich befinden mochte, es klang nach einem weitläufigen Raum. Zähneknirschend mühte er sich auf die Füße, ließ sich dabei Zeit und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Seine Beine fühlten sich etwas wackelig an und er verspürte einen leichten Schwindel, aber er hatte weder die Zeit noch die Absicht, sich das zu gestatten. Javier hatte schon früher in üblen Situationen gesteckt – Situationen, von denen niemand wusste. Nicht einmal Heather. Sie hatten sich in seiner Kindheit zugetragen, bevor seine Familie nach East Petersburg zog. Schnee von gestern. Er hatte es überlebt und beabsichtigte, auch diesen Schlamassel zu überstehen. Javier zwang sich, vorwärtszugehen, und strich dabei mit der Hand über die Wand, damit er in der Dunkelheit den Bezug zu seiner Umgebung nicht verlor. Er redete sich ein, dass er das Handy ohnehin nicht
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