Urban Gothic (German Edition)
schien die doppelte Anzahl von Gelenken an Beinen, Armen und Fingern zu besitzen. Paul starrte auf einen unförmigen Klumpen, der aus der linken Schulter der Kreatur ragte. Dann erkannte er, dass die Gewebewucherung seinen Blick mit einem kleinen, wässrigen Auge erwiderte – ein zweiter Kopf, ein nicht vollständig entwickelter siamesischer Zwilling. Was zunächst nach einer ungleichmäßigen rosa Narbe aussah, entpuppte sich als winziger Mund.
Eine dritte Kreatur, unverkennbar weiblich, schien relativ normal zu sein, jedoch entweder mit Vierlingen oder einem einzigen gewaltigen Fötus schwanger. Ihr praller Bauch stand glänzend vom Rumpf ab. Die nackte Haut glich einem Kaleidoskop verschiedener Violett- und Schwarztöne. Ihre gewaltigen Brüste klatschten im Gehen gegen die Rippen. Eine klare Flüssigkeit troff aus den misshandelten Nippeln. Paul überlegte, ob sie früher schon einmal entbunden und dabei ihr Kind die Brustwarzen so zugerichtet hatte. Der dichte Busch ihrer Schambehaarung wirkte verdreckt und verfilzt. Sie schnatterte vor sich hin, während sie sich vorwärtsschleppte. Ein dünner Speichelfaden hing aus ihrem Mund und baumelte auf eine Stelle zwischen ihren deformierten Brüsten hinab. Ihre Gesichtszüge erinnerten an jemanden, der am Downsyndrom litt, gleichzeitig wirkte ihre Miene grausam und wild.
Trotz der Unterschiede in Größe, Gewicht und Körpermerkmalen nahm er auch einige verbindende Eigenschaften bei seinen Entführern wahr. Die Pigmentierung ihrer Haut glich einer Mischung von Grau und Alabaster. Sie gehörten weder der kaukasischen noch der afroamerikanischen oder einer sonstigen Rasse an, die Paul einfiel. Ebenso wenig schienen sie gemischter Abstammung zu sein. Diese Wesen verkörperten etwas anderes, doch er hatte keine Ahnung, womit er es zu tun hatte.
»H-hey«, stammelte er, als er genug Speichel gesammelt hatte, um zu sprechen. »W-was soll das?«
Ein Albinozwerg mit wässrigen rosa Augen und sechs Fingern an jeder schwimmhäutigen Hand preschte vor und zischte ihn an. Sein Atem roch schlimmer als vorher die Kanalisation. Er bleckte schwarze, verwüstete Zähne. Paul schrie. Die Kreatur schlug ihm ins Gesicht. Schmerzen loderten in Pauls Kiefer auf und er biss sich von innen auf die Wange. Plötzlich verdrängte Wut angesichts der Demütigung seine Angst.
»He, du kleiner Scheißer! Was glaubst du eigentlich, was ...«
Knurrend schlug ihn der Zwerg erneut. Dann packte er Pauls Haare mit der Faust und riss heftig daran. Paul kreischte, als sich die Haare samt Wurzeln lösten. Der Kleinwüchsige huschte mit seiner Beute davon. Der Tross bewegte sich mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Paul begann zu schluchzen. Er schämte sich für diese Reaktion, konnte sich jedoch nicht dagegen wehren. Rotz blubberte aus seiner Nase und sammelte sich auf seinen Lippen.
»Lasst mich frei«, bettelte er, in der Hoffnung, dass sie ihn verstanden. »Hört mal, ich habe eine Frau und Kinder. Bitte, lasst mich gehen. Bitte! Was soll das alles? Sagt es mir!«
»Wir leben hier«, antwortete der Mutant mit den zwei Köpfen. Seine Stimme klang tief und traurig.
Einen Moment lang war Paul zu verdutzt, um etwas zu erwidern. »W-was?«
»Hier leben wir. Wir alle.«
»D-d-das wusste ich nicht. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass ich jemanden störe. Ich dachte, das Haus wäre verlassen, verstehst du?«
Paul hörte den kläglichen, weinerlichen Tonfall in seiner eigenen Stimme, doch das kümmerte ihn nicht. »Ich hatte mich verirrt, wollte mich nur umsehen, um mich zu orientieren. Ich wusste nicht, dass ... d-dass hier Menschen leben.«
Seine Kidnapper marschierten schweigend weiter, ohne ihm zu antworten. Sie sahen ihn nicht einmal an. Von irgendwo weiter vorn vernahm Paul ein fernes Geheul. Es klang unmenschlich.
»Ich wusste es nicht«, versuchte er es erneut. »Es tut mir aufrichtig leid. Wenn ihr mich einfach gehen lasst, dann kann ich ...«
»Du hast Werkzeug mitgebracht«, erklärte der Zweiköpfige nüchtern.
»Was?« Paul runzelte die Stirn, war nicht sicher, ob er den Freak richtig verstanden hatte. Er hatte keine Ahnung, wovon die Gestalt redete.
»Werkzeug.«
Die Kreatur löste eine Hand von der Stange und schnippte mit den Fingern. Ein anderer Mutant kam angerannt. Wo sich der linke Arm befinden sollte, besaß der Neuankömmling einen verkümmerten tentakelähnlichen Fortsatz. Der rechte Arm schien normal zu sein und in jener Hand hielt er Pauls
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