Urban Gothic (German Edition)
nachgrübelte. Nichts an dieser Situation ergab auch nur den geringsten Sinn. Alles schien so willkürlich zu sein. So unerklärlich. Wie konnte eine Rasse solcher Wesen so lange unentdeckt unter einer Großstadt wie Philadelphia existieren? Und was verkörperten sie eigentlich? Offensichtlich handelte es sich um Mutanten, aber woher kamen sie? Und von wem stammten sie ab? Sie schienen keine einheitliche rassenbezogene oder genetische Herkunft zu besitzen. Wie lange hausten sie hier bereits? Wie viele Menschen hatten sie schon getötet?
Sie konnte es nicht wissen. Tatsächlich wusste Heather nur mit Sicherheit, dass ihre Beine schmerzten, dass sie der Rücken plagte und dass sich ihre Augen körnig vor Schweiß und Dreck anfühlten. An den Händen und Knien hatte sie Blasen, die Verletzung an ihrem Fuß blutete wieder. Rauch aus der Laterne trieb ihr träge ins Gesicht, ließ ihre Sicht verschwimmen und brachte sie zum Husten. Jedes Mal, wenn ein neuer Zitteranfall einsetzte, klackten Heathers Zähne aufeinander. Mehrfach hatte sie sich dabei auf die Zunge und aufs Zahnfleisch gebissen. Durch den beharrlichen Geschmack von Blut im Mund rebellierte regelmäßig ihr Magen.
Sie fragte sich, wie weit sie noch kriechen musste, bevor sie diesem Albtraum entrinnen konnte. An sich hätte sie inzwischen längst die Erdoberfläche erreichen müssen. Trotzdem steckte sie immer noch mit dem Gewicht der gesamten Stadt über ihrem Kopf in einem verfluchten Tunnel fest. Fast wünschte sie sich, die Decke stürzte ein und zermalmte alles unter sich. Das brächte die Sache zumindest schneller zu Ende als dieses elende, qualvolle Kriechen durch die Dunkelheit. Heather unterdrückte ein Lachen. Ihr Bruder hätte diesen Quatsch geliebt. Er kroch andauernd bei Online-Games durch irgendwelche Dungeons und hätte sich hier wie zu Hause gefühlt.
Von irgendwo hinter ihr ertönte ein donnergleiches Grollen, das Heather an die unmittelbare Gefahr erinnerte, in der sie nach wie vor schwebte. Sie verdrängte ihr Selbstmitleid und kroch weiter, klammerte sich an die Hoffnung, dass sie irgendwann ein Ziel erreichte, wenn sie nur dieselbe Richtung beibehielt. Andererseits hatte sie keine große Wahl. Es gab keine Tunnel, die abzweigten. Ihre Möglichkeiten beschränkten sich darauf, weiter vorwärtszukriechen oder zum Ausgangspunkt zurückzukehren – und sie wusste, was sie dort erwartete. Alle Wege müssen irgendwohin führen. Zumindest behauptete das ihr Vater immer. Sie fragte sich, ob sich ihre Eltern bereits Sorgen um sie machten. Ob Kerris oder Stephs Eltern bereits nach ihnen suchten? Hatten sie inzwischen die Polizei angerufen? Oder vielleicht Javiers Mutter? Nein, die arbeitete nachts, und seinen Vater hatte Javier seit dem dritten Lebensjahr nicht mehr gesehen.
Vor ihr veränderte sich die Luft, geriet in Bewegung und strich wie zarte Finger über Heathers Gesicht. Nach der gefühlten Ewigkeit in der stickig-feuchten Umgebung der Höhlen war es eine erstaunliche Empfindung. Die Lampe flackerte und zischte, die Flamme tänzelte, als genieße sie die Brise ebenfalls. Heather hatte zwar keine Ahnung, was sich vor ihr befand, aber wenn es dort frische Luft gab, dann bestimmt auch einen Weg nach draußen.
Heather schöpfte neuen Mut. Sie vergaß ihre Familie, Javier, Kerri und Brett und konzentrierte sich ausschließlich auf Überleben und Flucht. Sie kroch schneller. Die Luft veränderte sich erneut, trug ihr ein neues Aroma zu – einen dichten, durchdringenden Gestank von Verwesung und Dreck, stärker als alles andere, was sie bisher in dieser Nacht gerochen hatte. Sosehr sie sich bemühte, den Geruch zu ignorieren, sie musste unwillkürlich würgen. Speichelfäden hingen von ihren geöffneten Lippen. Ihr Magen knotete sich zusammen. Hätte sich etwas darin befunden, sie hätte sich zweifellos übergeben. Stattdessen krampften sich nur die Muskeln in ihrem Unterleib schmerzhaft zusammen. Heather wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, keuchte und versuchte, nicht noch einmal zu würgen. Das flackernde Licht der Laterne wurde funkelnd vom angespitzten Buttermesser reflektiert. Sie konzentrierte sich darauf. Als sie sich wieder beruhigt hatte, bewegte sie sich weiter und atmete durch den Mund. Viel half das nicht – sie konnte die abscheulichen Ausdünstungen auf der Zunge schmecken. Bald wurde es zu viel. Ihre Augen tränten, wodurch ihre Sicht verschwamm, und der Brechreiz wollte einfach nicht aufhören. Sie kniff die
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