Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
über mich gewinnen lassen.
Ich zuckte nicht mal mit der Wimper, bis Dad den Wagen in die Garage fuhr und dann seinen Tonfall zu einem weichen, traurigen Beinahe-Flüstern absenkte. »Was mich am meisten enttäuscht, Grace, ist die Tatsache, dass du glaubtest, Jude allein finden zu müssen. Wenn du nicht so sehr mit dir selbst beschäftigt gewesen wärst, hättest du mitbekommen, dass Gabriel und ich die Innenstadt nach deinem Bruder abgesucht haben. Wir wussten bereits von den Shadow Kings.«
Ich biss mir auf die Lippe und nickte. Wieso wollte ich deswegen am liebsten heulen? »Wirst du zulassen, dass Gabriel mich zu seinem Rudel bringt?«
Dad schüttelte den Kopf. »Ich werde dich nicht aus den Augen lassen.«
Ein erleichtertes Schluchzen kam zitternd über meine Lippen. »Dann habe ich vermutlich Hausarrest.«
Dad stieß ein spöttisches Lachen aus. »Diese Art von Hausarrest wird mit nichts vergleichbar sein, was du vorher erlebt hast.«
Während der restlichen Woche
Dad hatte keine Witze gemacht. Ich stand nicht nur unter Hausarrest, sondern wurde jeden Tag von ihm zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Jede Mittagspause musste ich mit Gabriel im Klassenraum verbringen, wo er mir die Feinheiten des Tai Chi und der Meditation beibrachte. Er hatte das Projekt der Barmherzigen Samariter abgeblasen. Die anderen Schüler wurden dazu abkommandiert, im Day’s Market zu helfen und die große Wiedereröffnung des Ladens vorzubereiten.
Gleichwohl wurde ich von meinem Vater darüber informiert, dass ich meiner Mutter bei der Vorbereitung der Verkaufsstände auf dem Halloween-Straßenfest zu helfen hätte, um auf diese Weise meinen Anteil am Sozialprojekt abzuleisten. Um das Maß voll zu machen, vernagelte Dad mein Schlafzimmerfenster und nahm mir mein Handy weg – wenn ich mir schon nicht die Mühe gemacht hatte, dranzugehen, wenn es ›unbedingt erforderlich war‹, dann verdiente ich auch nicht, ein Handy zu besitzen.
Ich hatte den Zettel mit Talbots Telefonnummer verloren. Da ich jetzt kein Handy mehr hatte, gab es keine Möglichkeit, mit ihm in Verbindung zu treten und ihm zu erzählen, was passiert war.
Was mich allerdings vor dem Hintergrund des Hausarrests am meisten auf die Palme brachte, war die Tatsache, dass Daniel, obwohl wir uns in der Zwischenprüfungswoche befanden, am Tag nach unserem Streit nicht in der Schule erschien. Auch nicht am folgenden Tag oder demdanach. Als ich zur Abwechslung ein paarmal nicht den Atem meiner Eltern im Nacken spürte, rief ich ihn von unserem Festnetz an. Doch er ging nicht dran. Und ich hatte nicht die geringste Möglichkeit, zu seiner Wohnung zu kommen, um nachzusehen, ob es ihm gut ging.
Am Mittwoch passte ich April nach dem Kunstunterricht ab und entschuldigte mich nachdrücklich für meinen Wutanfall, nachdem sie mich bei Gabriel verpetzt hatte – schließlich hatte sie das Richtige getan. Sie verzieh mir sofort, klang aber mehr als enttäuscht, als ich ihr sagte, dass ich nicht länger vorhätte, die Superheldin zu spielen.
»Bist du sicher?«, fragte sie. »Ich hab total tolle Kostüme entworfen.«
»Sie hätten bestimmt ganz klasse ausgesehen«, erwiderte ich. »Aber ich kann das nicht länger tun. Ich weiß nicht, wie ich meine Kräfte aktivieren kann, ohne die Kontrolle zu verlieren. Ich kann dieses Risiko nicht noch mal eingehen.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass Talbot nicht derjenige war, vor dem Jude mich zu warnen versucht hatte. Es ergab einfach keinen Sinn. Aber je länger ich keinen Kontakt zu ihm hatte, desto mehr stellte ich seine Methoden infrage. Klar, er hatte mir gezeigt, wie ich meine Kräfte aktivieren konnte, doch nur, indem er mich Wut und Angst benutzen ließ – also genau die Dinge, die den Wolf stärker werden ließen. Mittlerweile kam es mir so vor, als wüsste ich überhaupt nicht mehr, wie ich meine Kräfte anwenden konnte, ohne dem Wolf allzu viel Kontrolle zu überlassen. Und warum hatte Talbot gewollt, dass ich meinen Mondsteinanhängerablegte? Jetzt trug ich ihn rund um die Uhr, duschte sogar mit ihm und hatte angesichts dessen, was ich Daniel angetan hatte, furchtbare Angst davor, ihn je wieder abzunehmen.
Wie hatte Talbot es so lange geschafft, nicht dem Wolf zu verfallen? Insbesondere, ohne dabei einen eigenen Mondstein zu tragen? War Talbot tatsächlich so viel stärker, als ich es war? Oder hatte Daniel recht – war Talbot vielleicht wirklich nicht der, für den er sich ausgab?
Auch wenn ich Gabriels
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