Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Gesellschaft nicht sonderlich schätzte, so muss ich zugeben, dass ich mich auf unsere gemeinsamen Tai-Chi-Übungen freute. Sie gehörten zu den wenigen ruhigen Momenten des Tages, in denen ich den Mondstein loslassen konnte und nicht dagegen ankämpfen musste, dass sich der Wolf meiner Gedanken bemächtigte. Ein Teil von mir wünschte, ich hätte meinen Stolz schon früher heruntergeschluckt und zugelassen, dass Gabriel mich unterrichtete.
Während unserer Übung am Donnerstag brach ich schließlich mein gegen Gabriel gerichtetes Schweigegelübde und fragte ihn, ob er irgendetwas über Daniels Abwesenheit wusste.
Er stand in einer T-Stellung, die Arme parallel nach vorn ausgestreckt. Dann glitt er in eine andere Position und sagte, Daniel ›suche nach Antworten‹.
»Antworten worauf?«, fragte ich.
»Das weißt du selbst ganz genau.« Mehr wollte er offenbar nicht sagen. In seiner Stimme lag so viel Enttäuschung,dass ich mir vorkam, als stünde ich am Fuß einer Grube und blickte einen unmöglich zu erklimmenden Fels hinauf.
Ich wandte mich ab und musste den plötzlichen Drang bekämpfen, Gabriels Beine unter ihm wegfegen und ihn quer durch den Gemeindesaal schleudern zu wollen.
Offenbar war nicht abzusehen, dass wir beide bald zu Freunden würden.
Am Freitag war Daniel noch immer nicht in der Schule aufgetaucht. Und als Sheriff Ford und Hilfssheriff Marsh an unserer Tür erschienen und fragten, ob ich wüsste, wo er sei, wurde mir klar, dass er sich auch nicht in seiner Wohnung aufhielt.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn seit Montag nicht gesehen.«
»Wissen Sie, wo er Sonntagabend war?«, fragte Marsh.
»Wieso?«
»Wir suchen nach möglichen Hinweisen im Zusammenhang mit dem Angriff auf Peter Bradshaw. Wir glauben, dass er etwas mit dem Tod von Tyler zu tun hat, deshalb befragen wir noch mal ein paar Leute.«
»Ich habe am Abend mit ihm telefoniert. Er war mit Sicherheit zu Hause«, sagte ich, obwohl ich mir mittlerweile über gar nichts mehr sicher war.
Verdammt, bei allem, was in den letzten Tagen geschehen war, hätte ich selbst diejenige sein können, die Pete angegriffen hatte. Vielleicht hatte ich es unter dem Einfluss des Wolfs getan und konnte mich nicht mehr daranerinnern. So, wie Jude Maryannes Leiche attackiert hatte, ohne zu wissen, dass er es gewesen war.
»Sind Sie sicher?«, fragte der Sheriff.
»Ja.«
Sheriff Ford fragte mich noch ein paar andere Dinge und gab mir dann seine Visitenkarte, für den Fall, dass mir noch irgendwas einfiel.
Ich wollte nur, dass Daniel nach Hause kam, und konnte an nichts anderes denken. Gabriel hatte gesagt, dass Daniel nach Antworten suche – doch was war, wenn er meinetwegen gegangen war?
Was war, wenn er plante, nicht mehr zurückzukommen?
Halloween
Der restliche Freitag verlief ohne eine Nachricht von Daniel. Wenn am folgenden Abend nicht das Halloween-Straßenfest stattgefunden hätte, wäre ich wohl den ganzen Samstag im Bett geblieben. Das Fest war wirklich das Letzte, wozu ich Lust hatte. Doch Mom zuckte nicht mal mit der Wimper, als ich ihr sagte, ich würde mich nicht wohlfühlen.
»Hol den Korb mit Paradiesäpfeln und stell ihn in den Corolla«, ordnete sie an. »Ich werde jetzt rüberfahren und das Dekorationskomitee beaufsichtigen. Such dir ein Kostüm, und dann möchte ich, dass du die Erfrischungen an den Stand bringst.«
»Ein Kostüm? Ernsthaft? Ich soll ein Kostüm tragen?«
»Alle verkleiden sich. Du siehst nur albern aus, wenn du es nicht machst.« Mom trug einen Kimono, den Großvater Kramer im vorletzten Sommer von einer Reise nach Japan mitgebracht hatte. Sie hatte sogar ihr Haar zu einem perfekten Knoten im japanischen Stil aufgesteckt. Sie hob James auf, der bereits in seinem Kostüm aus
Wo die wilden Kerle wohnen
steckte. Es war aus weißem Fleece, hatte einen buschigen braunen Schwanz und eine Kapuze mit langen, spitzen Ohren. James klatschte in die Hände und rief: »Nasst die nilden Kerle nos!«
Ich lachte. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte ich ein wenig Freude. James war so ziemlich das Niedlichste, was ich je gesehen hatte.
»Ich hab’s ihm beigebracht«, sagte Charity, als sie mit einem Karton karierter Tischdecken in Schwarz und Orange an mir vorbeilief. Sie trug ein Engelskostüm mit glitzernden Flügeln und einer weißen Toga. Es war immer eine Art Tradition in der Divine-Familie gewesen, sich an Halloween zu verkleiden. Eine Tradition, von der ich anscheinend in diesem Jahr ausgeschlossen
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