Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
die Stelle auf seiner Haut zu verbergen – dort, wo noch vor ein paar Minuten die Male sichtbar gewesen waren, die ich ihm in meiner Raserei zugefügt hatte. »Es ist nichts«, murmelte er und versuchte sich abzuwenden.
»Das ist keineswegs nichts.« Ich fasste nach der Hand, die sein Hemd zusammenhielt, und zog sie von seiner Brust weg. Ich hatte recht. Die Kratzer waren verschwunden.Nur drei blasse weiße Narben zeugten noch von ihrer Existenz. »Was geschieht hier, Daniel? Was hat das zu bedeuten?«
Ich griff nach seinem Arm und zog an dem ausgefransten Verband, der die Stiche verbarg, mit denen er im Krankenhaus genäht worden war. Ich fürchtete, dass er protestieren und sich aus meinem Griff zu lösen versuchen würde, aber als ich den Verband abzog, sackte er nur wieder gleichgültig an der Wand zusammen.
Es war nichts zu sehen. Nicht einmal eine Narbe.
»Was passiert hier?«, wollte ich wissen.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Daniel. Er strich über seinen unverletzten Arm. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Aber du wusstest, dass es passiert. Du bist wütend auf mich, weil ich Geheimnisse vor dir verberge, und du versteckst das hier vor mir?«
»Ich wollte es dir noch nicht sagen …«
»Weil du mir nicht vertraust?« Es war eine idiotische Frage, das war mir klar. Ich wusste, dass ich mich in letzter Zeit auch nicht gerade besonders vertrauenswürdig gezeigt hatte, aber das hier war ein viel zu großes Ding, um es vor mir zu verstecken. »Oder weil du denkst, dass ich zu schwach bin, um damit umzugehen?«
Daniel antwortete nicht.
»Kommen alle deine Kräfte zurück?«, fragte ich.
»Ja. Langsam. Aber sie entwickeln sich.«
»Oh, mein Gott.« Ich wich zurück, bis meine Beine die Kante des Betts streiften. »Heißt das etwa, dass du nicht geheilt bist? Bedeutet es …?«
Scheitern ist unvermeidbar … Es gibt gar keine Heilung?
»Ich weiß nicht …«, setzte Daniel an, wurde aber von einem lauten Klopfen an der Wohnungstür unterbrochen.
»Grace Divine!«, rief eine aufgebrachte Stimme. »Wenn du da drin bist, komm sofort raus, falls du das Tageslicht je wieder erblicken willst!«
Dad?
»Komm sofort da raus, junge Dame!«, rief er. »Wenn es sein muss, schlage ich die Tür ein.«
Ich blickte Daniel an. Er zog sein Hemd erneut vor der Brust zusammen; seine Augen huschten über das zerwühlte Bett. Wir wussten beide, dass die Tür nicht abgeschlossen war.
»Geh«, sagte er.
Mein Herz tat so weh, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können. Irgendetwas war zwischen Daniel und mir zerbrochen, und ich wollte nicht gehen, ohne es zu reparieren.
»Es ist nicht vorbei.«
Ich hörte, wie sich der Türknauf drehte. Ich schnappte mir meinen Rucksack und stürzte auf die Tür zu, noch bevor der Türknauf sich weiterdrehen konnte. Dann öffnete ich, trat vor meinen wütenden Vater und zog die Tür wieder zu, bevor er irgendetwas sehen konnte.
KAPITEL 22
Der Große Böse Wolf
Im Auto
Ich hatte nicht gewusst, dass mein Vater so laut schreien konnte – oder so lange. Anscheinend hatte Gabriel ihn über meine Eskapaden der letzten zwei Wochen informiert und ihm erzählt, wie ich vor ihm weggerannt war. Den ganzen Weg nach Hause schimpfte Dad; dann saßen wir noch eine ganze Weile in der Einfahrt im Wagen, weil er noch nicht fertig war. Ich war es müde geworden, meine Geschichte zu erzählen, und als Dad anfing, nach Einzelheiten zu fragen, ratterte ich wie ein Roboter alles herunter, was sich in der letzten Woche abgespielt hatte – bis auf die Ereignisse, bei denen meine Lippen in irgendeiner Form eine Rolle gespielt hatten. Als ich fertig war, hatte ich nichts mehr zu sagen, und ließ bloß Dads weitere Schimpftiraden über mich ergehen. Dad war normalerweise immer so ausgeglichen und versöhnlich, dass mir die ganze Szene völlig surreal vorkam.
Ich konnte spüren, wie die Stimme des Wolfs versuchte, sich einen Weg in meinen Kopf zu bahnen und mich dazu zu bringen, Dads Worten mit aller Schärfe entgegenzutreten. Ich hasste mich selbst dafür. Für den Wolf wäre es so einfach gewesen, mich alles vergessen zu lassen, was von Bedeutung war, wenn auch nur für ein paar Augenblicke. Was wäre geschehen, wenn Daniel mich nicht hättedavon abhalten können, ihn zu verletzen? Ich hätte alles verloren. Mit beiden Händen hielt ich den Mondsteinanhänger fest an mich gepresst und drängte den Wolf so gut es ging beiseite. Ich durfte ihn auf keinen Fall wieder irgendeine Kontrolle
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