Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
als ich den Raum betrat. Katie Summers hockte neben Barlows Schreibtisch. Sie war etwas grün im Gesicht, wirkte aber trotzdem nicht besonders aufgeregt. Sie lächelte und winkte Daniel zu, als er hinter mir ins Büro kam.
Mr. Barlow schloss die Bürotür hinter sich. Er nahm einen Stapel großer weißer Umschläge von seinem Schreibtisch und händigte jedem von uns einen aus. April öffnete ihren und stieß einen spitzen Schrei aus. Ich riss meinen auf und spürte mein Herz schneller schlagen.
Mit der Hand strich ich über das geprägte, saphirblaue Logo des Amelia Trenton Art Institute.
Dies war tatsächlich der große Tag.
Und ich gehörte dazu?
»Wie Sie wissen«, sagte Mr. Barlow, nachdem er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, »ist Trenton eine sehr konkurrenzorientierte Schule. Die HTA verfügt über eine der wenigen Kunstlehrgänge im Mittleren Westen, die Trenton überhaupt für die Aufnahme von Studenten als würdig erachtet. Um den guten Ruf unseres Kunstprogramms aufrechtzuerhalten, wähle ich jedes Jahr persönlich diejenigen Schüler aus meinem Leistungskurs aus, die sich meiner Meinung nach am besten für eine Bewerbung in Trenton eignen. In diesem Jahr gibt es nur vier Bewerbungsformulare. Jeder von Ihnen hält eines in der Hand.«
Neben mir holte Daniel tief Luft, so als wollte er diesen Augenblick bewahren.
Ich konnte überhaupt nicht mehr richtig atmen.
»Die Bewerbung muss in einem Monat eingereicht werden. Sie benötigen Fotografien ihrer besten Werke, um ein Portfolio Ihrer Arbeit zu erstellen, brauchen zwei Empfehlungsschreiben – Sie alle erhalten eines von mir – und müssen zwei persönliche Essays verfassen. Das ganze Paket müssen Sie vor Ende der Bewerbungsfrist einreichen, ansonsten wird Ihre Bewerbung nicht berücksichtigt. Das ist eure Chance für Trenton, also verderbt sie euch nicht, Leute.«
April zitterte wie ein überglückliches Hündchen. Katie presste das Bewerbungsformular an ihre Brust. Daniel legte seinen Arm um mich und drückte meine Schulter. »Wir haben’s geschafft, Grace«, flüsterte er und küsste mich auf die Schläfe.
»Freuen Sie sich nicht zu früh«, mahnte Barlow und verschränkte seine Hände auf dem Schreibtisch. Normalerweise tat er das immer, wenn er den Haken an einer Sache erläuterte. »Für gewöhnlich nimmt Trenton nur einen Studenten der HTA pro Jahr auf, manchmal zwei.« Sein Blick wanderte zwischen Daniel und mir hin und her. Dann sah er April und Katie an. »Ich habe Sie vier ausgewählt, weil Sie die besten Chancen haben. Machen Sie das absolut Beste aus ihren Bewerbungen. Vielleicht stellen wir dann dieses Jahr einen neuen Rekord auf.« Er strich über seinen gezwirbelten Schnurrbart. »Jetzt verschwinden Sie aus meinem Büro und machen sich wieder an die Arbeit.«
»Viel Glück, Mädels!«, sagte Katie, nachdem wir das Büro verlassen hatten. »Daniel.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich möchte sichergehen, dass meine Malerei für das Portfolio genau richtig ist. Würdest du sie dir einmal ansehen? Alle wissen, dass du der Beste bist.«
»Ähm. Ja. Klar.« Er drückte wieder meine Schulter, dann folgte er ihr zu ihrem Tisch.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken, saß dort für eine Weile und starrte auf den Trenton-Umschlag. Ich war überzeugt gewesen, dass Mr. Barlow mir unter keinen Umständen ein Bewerbungsformular geben würde. Abgesehen von meiner in letzter Zeit unsicheren Hand waren meine Noten im letzten Winter ziemlich abgefallen – was angesichts der Tatsache, dass sich meine große Liebe als Werwolf entpuppt und mein Bruder in der ganzen Stadt Verwüstungen angerichtet hatte, vielleicht nicht weiter verwunderlich war.
Daniel redete täglich über Trenton. Wie es für uns wohl wäre, wenn wir beide dort zusammen studierten. Er wollte gerne Industriedesigner werden, Gebrauchskunst herstellen, die Menschen in den Händen halten konnten und die ihre Lebensweise verändern würde. Deshalb war er unter anderem nach Rose Crest zurückgekehrt war. Natürlich auch, um nach einer Heilung für seinen Werwolffluch zu suchen. Er träumte davon, dass wir zusammen aufs College gingen, dass wir die Hausarreste und die schrägen Blicke der Leute in der Stadt hinter uns ließen. Dass er endlich den schrecklichen Erinnerungen an seinenVater entkam, die ihn jedes Mal überfielen, wenn er an seinem alten Haus vorbeigehen musste, um zu unserem zu gelangen.
In der anderen Ecke des Raums brach Katie in Gelächter aus. Ich
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