Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Tür weg. Wie konnte ich nur so verstörende Dinge denken?
KAPITEL 12
Der Barmherzige Samariter
Am nächsten Tag, in der Schule
So ziemlich alle waren am Montag über den neuen Religionslehrer in hellster Aufregung. Angesichts der Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Lehrer an der HTA bei über vierzig lag, bot das Auftauchen eines so jungen (wenn auch nur dem Anschein nach) neuen Lehrers offenbar einigen Gesprächsstoff.
»Ich hab gehört, er soll süß sein«, sagte April, als wir in der letzten Stunde zum Religionsunterricht der Oberstufe gingen.
Ich war froh, dass April mir Gesellschaft leistete, da Daniel und ich uns an diesem Tag offenbar aus dem Weg gingen. Zumindest tat ich das, denn als klar wurde, dass ihre Tischnachbarin krank war und fehlte, hatte ich mich ganz hinten im Kunstraum neben April gesetzt. Sie hatte dann die meiste Zeit damit verbracht, Kostümentwürfe für mich zu zeichnen. Obwohl ich selbst keinen großen Wert darauf legte, einen lilafarbenen Umhang mit einem auf der Rückseite angebrachten WG (für Wolf Girl!) zu tragen, hatte ich es nicht übers Herz gebracht, ihr zu erzählen, dass mir das Training erst mal untersagt worden war. Und wenn Daniel, Gabriel und Dad ihre Meinung diesbezüglich nicht änderten, würde ich auch wohl niemals einen ihrer Entwürfe benötigen. Doch im Augenblick wünschteich mir fast, dass April zu einem Thema wie ›Optimale Fußbekleidung für die Verbrechensbekämpfung‹ zurückkehrte, da mir die Erörterung der Vorzüge von Gabriel oder Pastor Saint Moon, oder wer immer er auch sein mochte, nicht besonders am Herzen lag.
April seufzte, als wir die Klasse betraten. »Okay, er ist also süß. Aber wäre gut aussehend nicht treffender für ihn? Was meinst du? Süß beinhaltet ja eine gewisse Jungenhaftigkeit, aber…«
Ich beugte mich dicht zu ihrem Ohr. »Weißt du eigentlich, dass er so was wie ein achthundertunddreißig Jahre alter Werwolf ist?«
»
Was?
« April brachte in einem Atemzug zehn weitere Fragen vor, doch ich muss gestehen, dass ich sie ausblendete.
Gabriel stand neben Daniels Tisch. Beide hatten sich über einen Bogen Papier in Daniels Hand gebeugt. Ich wusste, dass ich mein Supergehör einschalten könnte, um mitzuhören, worüber sie sprachen. Es war inzwischen recht einfach geworden, diese Kraft zu steuern. Aber mir gefiel die Idee nicht, meine Fähigkeiten anzuwenden, um Daniel nachzuspionieren. Genauso gut hätte ich wahrscheinlich einfach rübergehen und fragen können, was sie da machten. Ich saß ja normalerweise ohnehin neben Daniel. Aber offen gestanden wollte ich mit keinem der beiden reden. Und da Daniel seit dem Abend zuvor keine Anstrengung unternommen hatte, mit mir zu sprechen – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass er sich wegen der Lügen über seinen Aufenthaltsort nicht entschuldigtund mir schließlich den Rücken zugekehrt hatte –, zog ich die weiter vor sich hin murmelnde April auf die andere Seite des Klassenraums.
»Hallo Grace«, begrüßte mich Miya Nagamatsu, nachdem ich mich vor sie gesetzt hatte.
»Hi.« Ich lächelte sie an. Hauptsächlich deswegen, weil ihre Anwesenheit bedeutete, dass April aufhören würde, mich über Gabriels Werwolf-Hintergrund auszufragen.
»Wir sehen dich ja überhaupt nicht mehr.«
Ich zuckte mit den Achseln. Sie hatte recht. Das war eines der Dinge, die sich verändert hatten, nachdem April und ich nicht mehr befreundet gewesen waren. So, als wären wir zu der unausgesprochenen Übereinkunft gekommen, dass April alle unsere anderen Freundinnen wie Miya, Claire und Lane für sich behielt. Sie nahmen für gewöhnlich gemeinsam das Mittagessen im Rose Crest Café ein, während ich im Kunstraum blieb, um mit Daniel und manchmal auch Katie Summers zu arbeiten. Nachdem Daniel unmittelbar nach dem Pausenklingeln verschwunden war, hatten heute nur Katie und ich an unseren Bildern gearbeitet. Ohne Daniels Anwesenheit war sie weitaus weniger gesprächig gewesen.
»Ja«, fügte Claire hinzu. »Wir vermissen dich.«
»Danke, Leute.«
»Habt ihr euch getrennt oder so was?« Miya deutete quer durch den Raum auf Daniel. »Ihr beiden klebt doch sonst immer aneinander.«
Wie aufs Stichwort sah Daniel plötzlich zu mir herüber. Unsere Blicke trafen sich und er schenkte mir einzaghaftes Lächeln. In seinem Gesichtsausdruck lag mehr Traurigkeit, als ich erwartet hätte. Das Herz wurde mir schwer.
Was ist bloß mit ihm los?
»Nein«, sagte ich zu Miya. »Mir war heute nur
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