Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
abschütteln, konnte mich nicht zwingen, wegzuschauen oder meine Augen zu schließen. Ich konnte hören, wie die Frau einen leisen Gesang anstimmte, irgendeine fremde Sprache, aber ihre Lippen bewegten sich nicht. Ich hatte so etwas schon einmal erlebt, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wo oder wann.
»Benutz deinen Pfahl, Grace!«, rief Talbot. Er klang sehr weit entfernt. »Benutz ihn, Grace. Töte sie!«
Du möchtest mir deinen Pfahl geben
, sagte die Frau, ohne zu sprechen.
Gib ihn mir. Du weißt, dass du es willst.
Ich spürte den Pfahl in meiner Hand. Ich hatte fast vergessen, dass er überhaupt da war. Ein dicker Nebel wirbelte durch mein Gehirn. Ich konnte nur denken, dass ich diese schreckliche Waffe nicht haben wollte. Ich konnte niemanden töten. Ich war keine Mörderin. Ich war kein Monster. Wenn die Frau den Pfahl haben wollte, sollte sie ihn bekommen.
Langsam ließ ich den Arm sinken und reichte ihr das spitze Holzstück. Mit ihren krallenartigen Fingern griff sie danach und lachte.
Ich weiß nicht, was Daniel in dir sieht,
sagte sie im Innern meines Kopfes.
Du bist so schwach.
Wie bitte?
, versuchte ich zu sagen, aber meine Lippen wollten sich nicht bewegen. Woher kannte sie Daniels Namen? Woher wusste sie, wer ich war?
Aber vielleicht hat er ja heute Abend mehr Lust zum Feiern.
Sie hob den Pfahl über meinen Kopf.
Jetzt, da du tot bist.
Sie stieß mir den Pfahl vor die Brust.
Doch dann, als wäre plötzlich etwas in sie gefahren, erstarrte sie. Sie verdrehte die Augen und durchbrach die Trance, in der sie mich gefangen hielt. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich etwas. Auf einmal wurde mir klar, dass ich sie kannte.
»Mishka?«, fragte ich.
»Kleines Miststück!«, rief sie und löste sich direkt vor mir in Luft auf.
Alles, was von ihr übrig blieb, war ein Häufchen Staub. Ein abgebrochenes Stuhlbein fiel hinter ihrem Rücken zu Boden, nachdem sie verschwunden war. Es rollte vom Sofa quer über den Fußboden und prallte gegen einen von Talbots Joggingschuhen.
»Bist du okay, Kiddo?«, fragte er und reichte mir die Hand.
Ich wich seiner Berührung aus und drängte mich auf dem Sofa so weit wie möglich von ihm weg, während ich wie besessen Mishkas Staub von meiner Hose bürstete. »Ich … Ich … kannte sie«, stammelte ich. »Und du hast sie umgebracht.« Auf der Suche nach Lebenszeichen wandte ich den Kopf von einer Seite zur anderen. Mit Ausnahme zweier weiterer Staubhäufchen und einer Lache ätzender Flüssigkeit, die den Teppich wegfraß, war das Zimmer leer. Mir drehte sich wieder der Magen um und ich presste die Hände auf den Bauch. »Du … Du hast sie alle getötet.«
»Ja. Das ist genau das, was ich mache.« Talbot fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Irgendwann während des Kampfes hatte er sein Baseballcap verloren. »Was hastdu denn gedacht? Dass wir sie zu einem Eis einladen und ihnen Hundewelpen kaufen?«
»Nein. Ich dachte … dass wir sie der Polizei übergeben. Aber du hast sie umgebracht.« Das ergab alles keinen Sinn. Ich hatte gesehen, wie Talbot Aprils Silberarmband in die Hand genommen hatte, ohne dass es seine Haut versengte. Ich hatte angenommen, dass er genau wie ich war. Ein Urbat, der über Kräfte verfügte, aber dem Fluch nicht verfallen war. Ein Hund des Himmels. Aber wenn er jetzt zum ersten Mal jemanden getötet hatte, hätte er sich dann nicht in einen Werwolf verwandeln müssen? Doch andererseits – so, wie er mit dem Schwert umgegangen war, hatte er mit Sicherheit nicht zum ersten Mal getötet. Er hatte keine Sekunde gezögert. »Ich verstehe das nicht. Ein Akt räuberischen Tötens … Wenn du einen Menschen umbringst, dann …«
»Das waren keine Menschen, Grace. Das waren waschechte Dämonen. Der Fluch des Werwolfs überkommt dich nur dann, wenn du einen Menschen tötest. Die Urbats wurden erschaffen, um Dämonen zu töten. Genau das machen wir.«
»Aber neulich hast du den mit der Waffe nicht getötet.«
»Ich habe ihn in deinem Beisein nicht töten wollen, weil ich nicht wusste, ob du schon dafür bereit warst. Anscheinend bist du es noch immer nicht. Du bist noch viel grüner hinter den Ohren, als ich dachte.«
»Nein. Es ist nur so, dass ich es noch immer nicht verstehe. Mein Bruder verfiel dem Fluch, als er versuchte Daniel zu töten – der zu jener Zeit ein Werwolf war …«
»Ah.« Talbot setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich wich vor ihm zurück, da ich nicht länger wusste, wer er eigentlich war. »Sieh mal, Werwölfe sind
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