Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Ich habe ihn seit dem Tag, an dem mein Großvater starb, nicht mehr gesehen. Wir sind die Letzten der Familie.«
»Nein«, sagte ich. »Don ist tot. Ich kannte ihn. Er starb vor zehn Monaten. Aber er wollte ein Held sein wie du.«
Talbot ließ den Kopf hängen, seine Schultern sackten ein.
Jetzt wusste ich, wieso er mir so seltsam vertraut vorkam. Auch wenn sie nicht identisch aussahen, so gab es doch eine Familienähnlichkeit. Sie manifestierte sich in der Form des Mundes, dem Ton der Stimme und der Größe der Hände und rief eben jene Vertrautheit in mir hervor, die mich so häufig erstaunte. Talbot erinnerte mich an einen jüngeren, attraktiveren und sowohl geistig als körperlich gesunden Don Mooney. Es gab sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Gabriel. Die beiden hätten ebenfalls Cousins sein können.
»Das heißt also, dass du der letzte echte Saint Moon bist«, stellte ich fest.
Talbot bückte sich. Er hatte sein Cap wiedergefunden. Er hob es auf und setzte es sich auf den Kopf. »Ich werde mal das restliche Haus nach Leichen durchsuchen. Ich bezweifle,dass diese Kreaturen bei den Leuten, die hier mal gewohnt haben, willkommene Gäste waren.«
Er ging in Richtung Treppe, blieb dann aber stehen und wandte sich zu mir um. »Du hast hier heute echt was geleistet. Wir müssen allerdings noch ein paar Dinge erledigen, bevor wir darüber nachdenken können, der echten Gang hinterherzujagen.« Er lächelte mich zögernd an. »Wir finden deinen Bruder. Ich verspreche es.«
»Danke«, sagte ich.
»Sieh zu, dass diese Verletzungen in deinem Gesicht schnell abheilen. In einem der Badezimmer findest du bestimmt ein Handtuch und kannst dich etwas waschen. Ich kann dich nicht zum Bus zurückbringen, solange du so aussiehst.«
Ein paar Minuten später
Neben der Küche entdeckte ich ein kleines Badezimmer. Gelbe Schmutzringe zogen sich durch das Innere des Waschbeckens. Der Spiegel hatte Risse und war fast blind. Ein altes, steif gewordenes Handtuch hing an einem Metallring aus angelaufenem Messing. Ich nahm es herunter und benutzte den Handtuchzipfel, um einen Bereich des Spiegels zu säubern. Danach blickte ich auf die rot geränderten Augen meines Spiegelbilds, auf das bleiche Gesicht und das zerzauste Haar. Rote, wie spitze Fingernägel geformte Male bedeckten meinen Hals dort, wo Mishka mich gepackt hatte. Der Kontakt mit demsäureartigen Blut des Gelals hatte auf meinem Gesicht drei markante Verbrennungen hinterlassen, auf denen sich Blasen bildeten.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Ich versuchte mir vorzustellen, meine Wunden heilen zu lassen, so wie Daniel es mir gezeigt hatte, versuchte, sie mit der Kraft meiner Gedanken auszulöschen. Doch als ich die Augen wieder öffnete, war mein Spiegelbild noch genau dasselbe. Seit meinem bahnbrechenden Lauf am Sonntag hatte sich die Fähigkeit zur Kontrolle meines Supergehörs, meiner Geschwindigkeit, meiner Stärke und meiner Beweglichkeit um ein Zehnfaches verstärkt. Doch die Heilungskräfte blieben mir weiter versagt. Diese Wunden wären zwar wahrscheinlich in wenigen Stunden von selbst abgeheilt – und nicht erst in Wochen wie bei einem gewöhnlichen Sterblichen –, doch eigentlich hätte ich in der Lage sein müssen, den Prozess zu beschleunigen. Anstatt Stunden hätte es nur Sekunden dauern sollen, wenn ich mich genügend konzentrierte.
Da ich nicht stundenlang warten konnte, schloss ich die Augen und versuchte es noch einmal. Die Heilungskräfte waren die ersten gewesen, die Daniel als Kind entwickelt hatte. Auf diese Weise hatte er überhaupt entdeckt, dass er über besondere Fähigkeiten verfügte. Doch aus irgendwelchen Gründen war diese Fähigkeit für mich am schwersten zu erreichen. Ich öffnete die Augen, runzelte angesichts meiner unveränderten Erscheinung die Stirn – und fuhr beim Anblick von Talbot, der direkt hinter mir in der Tür stand, erschrocken zusammen. DasHerz schlug mir bis zum Hals, und ich umklammerte den Waschtisch, um mich abzustützen.
»Tut mir leid«, sagte Talbot. »Ich hab geklopft, aber du hast nicht reagiert. Ich hab mir Sorgen gemacht …«
»Ich bin okay. Hab nur versucht, mich zu konzentrieren.«
»Du solltest dich stärker konzentrieren. Wir müssen zurück zum Bus und deine Wunden sind noch nicht verheilt.«
»Ja, weil ich nicht weiß, wie ich das machen soll.«
»Oh.« Talbot schlüpfte in den engen Raum. Zwei Schritte weiter und wir hätten uns berührt. Ich verfluchte mein Herz, weil es
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