Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
tun.«
»Nein. Mom besteht darauf, dass alle kommen. Es ist ein Familienessen. Mom hat gekocht und wir haben Gäste.«
»Wirklich?« Regelmäßige Familienessen waren in den ersten siebzehn Jahren meines Lebens ein immer wiederkehrendes Ritual der Divine-Familie gewesen. Jetzt allerdings konnte ich mich kaum erinnern, wann wir das letzte Mal alle zusammen am Tisch gesessen hatten, von Besuch ganz zu schweigen. Als ich die leckeren Düfte aus der Küche bemerkt hatte, hätte ich wohl gleich zwei und zwei zusammenzählen sollen.
»Daniel ist hier.«
»Ooh.« Ich fand es toll, dass allein die Erwähnung seines Namens mein Herz schneller schlagen ließ.
»Und dieser süße neue Religionslehrer von deiner Schule, Pastor Saint Moon.«
»Oh.« Dieses Mal hatte meine Stimme einen ganz anderen Tonfall. Gabriel war momentan die letzte Person, die ich gern sehen wollte. »Ich hab wirklich ’ne Menge Hausaufgaben zu erledigen. Kannst du Mom bitte sagen, dass ich nicht …«
»Ja, klar. Hör zu, Mom macht mal wieder total auf Mutter der Nation. Sie hat ein Vier-Gänge-Menü gekocht und das gute Porzellan rausgeholt. Wenn ich du wäre, würde ich mich nicht mit ihr anlegen.«
»Toll«, gab ich murmelnd zurück.
Mom rief uns von unten.
Charity fuhr wie ein ängstliches Kätzchen zusammen und brüllte: »Wir kommen!«
Ich stand vom Schreibtisch auf und überprüfte in meinem mannshohen Spiegel mein Äußeres. Ich wollte sichergehen, dass von den nachmittäglichen Erlebnissen mit Talbot keine erkennbaren körperlichen Spuren übrig geblieben waren. Charity blieb in der Türöffnung stehen, also tat ich so, als überprüfte ich mein Make-up – bis mir einfiel, dass ich überhaupt keins benutzt hatte.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie.
»Ähm, ja.«
Ich folgte Charity nach unten. Daniel und Gabriel saßen mit Dad und James am Esstisch. Während Mom die Salatschüssel auf den Tisch stellte, warf sie uns einen ihrer Wieso-habt-ihr-so-lange-gebraucht-Blicke zu. Gabriel stand auf, als Charity und ich an den Tisch traten, und verbeugte sich vor mir, während ich Platz nahm. Ich fragte mich, ob das etwas mit diesem Göttlichen-Gerede zu tun hatte oder ob es sich nur um eine weitere seiner altmodischen Angewohnheiten handelte. Dann drehte sich Gabriel zur Seite und verbeugte sich auch vor Charity.
Sie fing hysterisch an zu kichern und wurde rot.
Ich verdrehte die Augen.
Und Daniel schnaubte.
Charity hatte nicht die geringste Ahnung. Gabriel Saint Moon war viel zu alt, als dass sie sich in ihn hätte verlieben können.
Ich saß neben Daniel. »Hey«, sagte er und drückte meine Hand. Der Verband an seinem Arm war völlig ausgefranst. Wahrscheinlich hatte er weiter daran herumgefummelt.
»Hey«, erwiderte ich und versuchte, so normal wie möglich zu klingen. Denn genau das wollte Daniel: normal sein. Nicht andersartig, so wie ich mich gerade fühlte. Ich lächelte arglos – versuchte zumindest, es so arglos und normal wie möglich aussehen zu lassen –, befürchtete dann jedoch, dass ich übertrieb. Allerdings konnte ich Daniel auch nicht in die Augen sehen. Was wäre, wenn er meine Schauspielerei sofort durchschaute? Ich ließ also das unbeholfene Lächeln und wandte meine Aufmerksamkeit James zu, der sich gerade anschickte, mit den Gurten seines Babystuhls eine Entfesselungsnummer à la Houdini zu vollführen. Nachdem ich James nach einem kurzen Ringkampf wieder auf seinen Sitz zurückgeschoben hatte, sprach Dad den Segen und Mom verteilte den Salat auf die Teller.
»Das sieht ja ganz hervorragend aus«, sagte Gabriel, als Mom ihm seinen Teller reichte. »So etwas habe ich seit meinem letzten Frankreichaufenthalt nicht mehr gegessen.«
Mom lächelte. »Oh, vielen Dank, Pastor Saint Moon. Heute Abend essen wir italienisch. Ein Teil meiner Familie stammt aus Rom.« Dann wandte sie sich unserer mehr als komplizierten Familiengeschichte zu, während Gabriel nickte und ihr Fragen über ihre Vorfahren stellte. Als ich Mom so plötzlich eine echte Unterhaltung führenhörte, fühlte ich mich für einen Augenblick beinahe wie Gabriel, war fast entspannt.
Allerdings nur, bis Dad das Gespräch in eine völlig andere Richtung lenkte. »Nun, Gabriel, wie läuft es denn mit dem Sozialprojekt der Oberstufe? Ich hatte schon Angst, alles absagen zu müssen, als Mr. Shumway gekündigt hat.«
»Ganz gut«, erwiderte Gabriel. »Was meinst du, Daniel?«
Daniel hatte sein Handy hervorgeholt. »Ja, glaub schon.« Er überprüfte das
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