Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Farbspritzer auf einer Leinwand durchschoss mich ein Gedanke: Was wäre, wenn Daniel in der vergangenen Nacht auf seine typisch indirekte Art um Hilfe gebeten hatte? Um
meine
Hilfe?
Als wir das Lied beendet hatten, setzte ich mich mit völlig neuer Entschlossenheit auf meinen Platz. Es war zu spät, diesen Gedanken jetzt noch beiseite zu schieben.
Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Montag, vor Schulbeginn
»Tut mir leid, Grace, aber ich kann nichts tun.« Mr Barlow strich über seinen Schnurrbart.
Ich konnte nicht fassen, wie uneinsichtig er war. Mein ganzer Plan hing davon ab. Wenn ich Daniel dabei helfen sollte, sein Leben zurückzubekommen, dann musste ich ihn erst einmal zurück auf die Schule bringen. Danach würde ich schon einen Weg finden, die Dinge zwischen ihm und meinem Bruder zu klären. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Mr Barlow. Daniel braucht diese Klasse.«
»Was dieser Junge braucht, ist Respekt.« Barlow schob einen Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch herum. »Solchewie er glauben, sie könnten einfach hier reingetanzt kommen und tun, was sie wollen. Dies ist ein Kunst-Leistungskurs und keine einfache Anfängerklasse.«
»Ich weiß, Sir. Niemand nimmt diese Klasse auf die leichte Schulter. Es ist ja eigentlich schon eine Auszeichnung, überhaupt hier sein zu dürfen …«
»Ganz genau. Und deshalb wird Ihr Freund an diesem Unterricht nicht mehr teilnehmen. Dies ist ein Kurs für ernsthaft interessierte Künstler. Und da wir gerade beim Thema sind«, Barlow öffnete seine Schreibtischschublade und zog einen großen Bogen Zeichenpapier hervor, »ich würde gern mit Ihnen über Ihr letztes Projekt sprechen.« Er legte den Bogen auf den Tisch. Es war die schludrige Zeichnung meines Teddybärs.
Ich versank in meinem Stuhl. Soviel zum Thema ›Grace Divines Kampf um Daniels Platz in der Klasse‹ – nun stand mein eigenes Ansehen auf dem Prüfstand.
»Ich muss schon sagen, ich war ziemlich enttäuscht, als ich das hier gesehen habe.« Barlow deutete missbilligend auf die Zeichnung. »Doch dann habe ich verstanden, worauf Sie hinauswollen. Eine ziemlich brillante Idee.«
Ich richtete mich auf. »Wie bitte?«
»Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege. Ich möchte keinesfalls eine unzutreffende Interpretation abgeben. Ich hatte Sie alle gebeten, etwas zu zeichnen, was Sie an Ihre Kindheit erinnert. Ihr Ansatz gefällt mir ausgezeichnet. Dies ist ganz klar eine Darstellung Ihres Talents und Ihrer Fähigkeit auf dem Niveau eines Kindes. Ich bin von Ihrer künstlerischen Vision wirklich beeindruckt.«
Ich nickte zustimmend, fragte mich jedoch, ob ich dafür nicht in der Hölle landen würde.
»Sie hätten nur Ihre beiden Arbeiten zusammen abgeben sollen. Ich hätte Ihnen nämlich beinahe ein Mangelhaft gegeben, bevor ich dann dies hier entdeckte.« Barlow zog eine weitere Zeichnung aus der Schublade und legte sie auf den Schreibtisch. Es war die Kohlezeichnung des Walnussbaums.
Ich dachte, ich müsse ersticken. Am unteren Rand der Zeichnung stand mein Name – unverkennbar war es Aprils krakelige Handschrift. »Ich habe gar nicht …« Doch es gelang mir nicht, die Wahrheit zu sagen, als ich die Bewunderung auf Barlows Gesicht sah, während er die Linien des Baumes betrachtete.
»Dies ist wirklich ein ausgezeichnetes Beispiel für Ihre in den letzten Jahren gewachsenen und erweiterten Fähigkeiten«, sagte Barlow. »Um ehrlich zu sein, habe ich mit diesem Niveau vor Ihrem Abschluss überhaupt nicht gerechnet.« Er zog einen roten Kugelschreiber hervor und schrieb eine dicke Eins plus oben auf den Bogen. »Es ist wirklich eine Ehre, Sie hier in meiner Klasse zu haben.« Barlow reichte mir beide Zeichnungen. »Und nun verschwinden Sie, damit ich hier noch ein bisschen arbeiten kann.«
Ich stand auf und setzte mich in Bewegung. Doch dann besann ich mich anders und wandte mich um. Meine Entschiedenheit von gestern war zurückgekehrt. »Mr Barlow?«
Er sah zu mir auf. »Ja?«
»Sie unterrichten gerne Schüler mit vielversprechendem Talent, so wie Sie es hier in der Zeichnung sehen? Sie sagen sogar, es sei eine Ehre.«
»Ja, das stimmt.« Mr Barlow strich wieder über seinen Schnurrbart und blinzelte. »Worauf wollen Sie hinaus?«
Ich trat wieder an seinen Schreibtisch und holte tief Luft. »Sie ist nicht von mir«, platzte ich heraus und reichte ihm die Baum-Zeichnung. »Daniel hat sie gemacht.«
»Sie haben seine Arbeiten eingereicht?«, geiferte Mr Barlow.
»Nein. Diese
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