Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Straßen in der Nähe von Daniels Apartment navigierte. Ich blieb unter derselben Straßenlaterne wie Freitagnacht stehen und betrachtete das besetzte Gebäude auf der anderen Straßenseite. Im dämmernden Nachmittagslicht sah es nicht mehr
ganz
so bedrohlich aus. Es war aus gelben Ziegelsteinen erbaut, die wie Reihen verfaulter Zähne aussahen, mit einem Loch in der Mitte, wo sich einst die Tür befunden haben musste. Zigarettenstummel und schmutziger Abfall bedeckten die marode Veranda.
Ich war nicht unbedingt scharf darauf zu erfahren, wie das Haus wohl von
innen
aussehen mochte.
Dennoch musste ich wohl an jede Tür klopfen und fragen, ob irgendwer einen großen, schlanken Typen mit geisterhafter Hautfarbe kannte, der auf den Namen Daniel hörte – und hoffen, dass niemand auf die Idee kam, ein sehr unschuldig aussehendes Mädchen hinters Licht zu führen.
Ich saß da, betrachtete das Kommen und Gehen auf derStraße und hoffte, dass Daniel vielleicht einfach zufällig vorbeikäme. Ich zählte fünf Stadtstreicher, die in Richtung Obdachlosenheim davoneilten, und mindestens sieben streunende Katzen sprangen über die Straße, so als wären sie ängstlich darauf bedacht, vor Einbruch der Dunkelheit einen Unterschlupf zu finden. Ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben fuhr langsam an den Straßenrand und ließ eine Person einsteigen, bei der es sich um einen sehr großen Mann in einem Minirock zu handeln schien, der bereits seit dreißig Minuten an der Ecke Markham und Vine unruhig hin- und hergelaufen war.
Die Straße wurde leerer, als die Sonne tiefer im Dunst der Stadt versank. Zwei sich entgegenkommende Typen verlangsamten kurz ihre Schritte vor Daniels Gebäude. Sie schienen sich nicht zu kennen, doch irgendetwas wechselte definitiv von der Hand des einen in die des anderen, bevor sie weitergingen. Einer von ihnen sah direkt zum Minivan herüber. Ich duckte mich und blieb für ein paar Sekunden unten, dann linste ich aus dem Fenster. Die Markham Street war jetzt genauso verlassen wie neulich Abend. Ich schaute auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war kurz nach halb fünf – ich hasse die frühen Sonnenuntergänge im November –, und es war klar, dass ich April bestimmt verpassen würde, wenn ich nicht sofort losführe.
Ich wollte gerade den Wagen in Bewegung setzen, als ich ihn entdeckte. Er trug einen grauen Mechaniker-Overall und trommelte mit den Fingern auf seinem Beinherum, als ob er damit ein heimliches Lied in seinem Kopf begleitete. Er war gerade auf dem Weg ins Innere des Gebäudes. Kurz bevor ich meinen Mut verlor, stellte ich die Zündung ab und holte meinen Rucksack aus dem Wagen.
»Daniel«, rief ich, während ich die Straße überquerte. Er drehte sich um, sah mich an und lief hinein.
Ich stolperte die Veranda hoch. »Daniel? Ich bin’s, Grace.«
Daniel stieg bereits eine schwach erleuchtete Treppe hinauf. »Hätte nicht erwartet, dich wieder zu sehen.« Er machte eine schwache ›Folg mir‹-Bewegung mit der Hand. Ich schlich hinter ihm die Stufen hinauf. Das Treppenhaus stank nach abgestandenem Kaffee, der in einer verdreckten Toilette zubereitet worden sein musste, und die Wände waren wieder und wieder mit zahlreichen verworrenen Obszönitäten übersprüht worden, sodass sie aussahen, als habe sie ein überaus mies gelaunter Jackson Pollock in seiner Hochphase des abstrakten Expressionismus fabriziert.
Daniel hielt am dritten Treppenabsatz an und zog einen Schlüssel aus der Tasche. »Du kannst wohl meinem blendenden Aussehen einfach nicht widerstehen, was?«
»Jetzt bild dir bloß nichts ein. Ich bin hergekommen, um dir was mitzuteilen.«
Daniel öffnete die Tür. »Ladies first«, sagte er knapp.
»Ist klar«, erwiderte ich und schob mich an ihm vorbei. Ungefähr eine Sekunde später wurde mir bewusst, dass das vielleicht keine so gute Idee war. Wenn Mom nicht zuHause war, erlaubte sie mir nicht, Jungs zu Besuch zu haben, und allein die Wohnung eines Typen zu betreten, war etwas, das sie ganz sicher nicht gutgeheißen hätte. Ich wollte an der Tür stehen bleiben, doch Daniel lief einfach an mir vorbei und ging weiter in die Wohnung hinein. Ich folgte ihm in einen düsteren Raum, in dem sich lediglich ein Fernsehgerät auf einem Pappkarton sowie eine kleine braune Couch befanden. Aus einem Zimmer weiter hinten im Flur bummerte gedämpfte Musik hinein, und ein schlaksiger Typ mit rasiertem Schädel lümmelte auf der Couch. Ungerührt und in sich versunken starrte er an die
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