Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
während sie einen Stapel Pfannkuchen mit Schokostückchen auf meinen Teller schaufelte. Sie hatte bereits zwei Dutzend gebraten, obwohl wir alle, mit Ausnahme von Dad, normalerweise erst dreißig Minuten später zum Frühstück herunterkamen. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«
Klar, mit einem Kissen über dem Kopf.
»Ich hab heute Morgen einen Termin mit Mr Barlow.«
»Mm-hmm«, erwiderte Mom. Sie war damit beschäftigt, die bereits strahlend saubere Arbeitsplatte zu putzen. Ihre Slipper spiegelten sich im Glanz des Linoleums auf dem Fußboden. Mom zeigte häufig Anzeichen einer Zwangsneurose, wenn sie gestresst war. Je mehr Probleme es in der Familie gab, desto mehr versuchte sie, alles auf Hochglanz zu polieren. So, dass alles in höchstem Maße perfekt erschien.
Ich bohrte meinen Finger in eines der schmelzendenSchokostückchen, die auf meinem Pfannkuchen ein symmetrisches, lächelndes Gesicht formten. Normalerweise machte Mom ihre ›Feiertagspfannkuchen‹ nur zu besonderen Anlässen. Ich fragte mich, ob sie versuchte, uns das bevorstehende Gespräch über Maryanne erträglicher zu machen und uns auf eine von Dads Predigten vorzubereiten, in der er über den Tod als natürlichem Bestandteil des Lebens und so weiter referieren würde. Doch diese Frage stellte ich mir nur so lange, bis ich den schuldbewussten Blick in ihren Augen entdeckte, als sie ein Glas Orangensaft vor mich hinstellte. Die Pfannkuchen waren ein Friedensangebot wegen ihrer gestrigen Streiterei mit Dad.
»Frisch gepresst.« Mom nestelte an ihrer Schürze herum. »Oder möchtest du lieber Preiselbeere? Oder hellen Traubensaft?«
»Nein, alles bestens«, murmelte ich und nahm einen Schluck.
Sie runzelte die Stirn.
»Schmeckt toll«, sagte ich. »Ich liebe frisch Gepressten.«
Ich kapierte gleich, dass Dad an diesem Morgen nicht aus dem Arbeitszimmer kommen würde. Wir würden nicht darüber sprechen, was mit Maryanne geschehen war. Und Mom würde ganz sicher auch nicht ihre Streiterei erwähnen.
Gestern Abend hatte ich mich Daniel gegenüber schuldig gefühlt, weil ich eine Familie hatte, die gemeinsam am Tisch saß und miteinander redete. Doch plötzlich wurdemir klar, dass wir eigentlich niemals über Probleme sprachen, die unser eigenes Zusammenleben betrafen. Deswegen erwähnte die restliche Familie auch Daniels Namen nicht mehr. Und ebenso wenig wurde darüber gesprochen, was in jener Nacht passiert war, als er verschwand – egal, wie oft ich auch danach fragte.
Reden hätte bedeutet, dass man zugab, dass etwas nicht in Ordnung war.
Mom lächelte. Ihr Lächeln wirkte genauso klebrig-süß und falsch wie der auf mein Frühstück geträufelte künstliche Ahornsirup. Sie huschte an den Herd zurück und wendete ein paar Pfannkuchen. Ihr Gesicht verwandelte sich wieder in ein einziges Stirnrunzeln, und dann warf sie die gesamte Ladung nur ganz leicht angebrannter Pfannkuchen in den Müll. Unter ihrer Schürze trug sie dieselbe Bluse und Hose wie gestern. Ihre Finger waren von der stundenlangen Putzerei rau und gerötet. Dies war Perfektion im Übermaß, die ganz große Nummer.
Ich wollte Mom gerade fragen, warum sie ihren Streit mit Dad eigentlich hinter zehn Pfund Pfannkuchen versteckte, als Charity in den Raum geschlendert kam.
»Was riecht denn hier so gut?«, fragte sie gähnend.
»Pfannkuchen!« Mit ihrem Pfannenwender scheuchte Mom Charity auf ihren Platz und präsentierte ihr einen überladenen Teller. »Hier sind Ahornsirup, Brombeeren, Sahne und Himbeermarmelade.«
»Wahnsinn.« Charity stocherte mit ihrer Gabel in einer Schüssel Schlagsahne. »Du bist die Beste, Mom.« Sie schlang ihre Pfannkuchen hinunter und machte sich andie zweite Runde. Ihr schien nicht aufzufallen, dass Mom beinahe ein Loch in die Bratpfanne scheuerte.
Charity nahm ein Glas Himbeermarmelade in die Hand und erstarrte plötzlich. Ihre Augen waren mit einem Mal feucht geworden, als ob sie gleich zu weinen anfinge. Das Marmeladenglas fiel ihr aus der Hand und rollte über den Tisch. Gerade als es über die Tischkante kullern wollte, fing ich es auf.
Ich blickte auf das Etikett: ›Aus Maryanne Dukes Küche.‹
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich und legte Charity eine Hand auf die Schulter.
»Ich hab vergessen …«, sagte sie leise, »… ich hab vergessen, dass es kein Traum war.« Sie schob ihren Teller von sich und stand auf.
»Ich wollte gerade ein paar Eier braten«, rief Mom ihr nach, als Charity die Küche verließ.
Ich schaute auf
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