Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
nichts hören.
»Wir müssen was unternehmen«, flüsterte ich. »Ich glaube, sein Vater schlägt ihn.«
»Er macht noch viel Schlimmeres«, erwiderte Jude ruhig. »Daniel hat es mir erzählt.«
Ich saß neben Jude auf dem Bett. »Dann müssen wir ihm helfen.«
»Daniel hat mich auf unsere Blutsbrüderschaft schwören lassen, dass ich Mom und Dad nichts erzähle.«
»Aber das ist doch ein Geheimnis, und Geheimnisse sind falsch. Wir müssen es ihnen erzählen.«
»Ich kann nicht«, sagte Jude. »Ich hab’s versprochen.«
Ein furchtbares Gebrüll erklang im Hintergrund, gefolgt vom lauten Krachen splitternden Holzes. Ich hörte einen dumpfen Protestschrei, der von einem schrecklichen Klatschgeräusch unterbrochen wurde; es klang wie der Holzhammer, den meine Mutter benutzte, wenn sie auf der Arbeitsplatte Fleisch klopfte.
Sechs harte Klatscher und ein donnernder Aufprall, dann war es plötzlich still. So still, dass ich fast geschrieen hätte, um die gespenstische Ruhe zu durchbrechen. Und dann ertönte dieses winzige Geräusch – ein wimmerndes Klagen wie von einem Welpen.
Ich schob mich dicht an Jude heran und legte den Kopf an seine Schulter. Er fuhr mit der Hand über mein zerzaustes Haar.
»Dann werde
ich
es erzählen«, sagte ich. »Dann musst du dein Versprechen nicht brechen.«
Jude hielt mich fest im Arm, bis ich den Mut aufbrachte, meine Eltern zu wecken.
Daniels Vater war abgehauen, bevor die Polizei kam. Doch
mein
Vater überzeugte den Richter, dass Daniel bei uns bleiben sollte, während seine Mutter ein paar Dinge zu regeln versuchte. Erst war Daniel ein paar Wochen bei uns, dann waren es Monate, und schließlich wurde etwas mehr als ein Jahr daraus. Doch obwohl sein gebrochener Schädel wie durch ein Wunder schnell wieder heilte, schien mir Daniel nicht mehr derselbe zu sein. Manchmal war er glücklicher, als ich ihn je erlebt hatte, doch dann konnte ich manchmal den stechenden Blick in seinen Augen sehen, wenn er mit Jude zusammen war – als ob er wüsste, dass mein Bruder sein Vertrauen missachtet hatte.
Abendessen
Zum ersten Mal seit Jahren saß ich allein am Tisch und aß zu Abend. Jude hatte gesagt, er sei nicht hungrig, und war in den Keller hinuntergegangen, Charity war in ihrem Zimmer, James war bereits im Bett, und Mom und Dad waren im Arbeitszimmer und hatten die Doppeltür hinter sich geschlossen. Als ich auf meinem Teller mit aufgewärmten Makkaroni und Bœuf Stroganoff herumstocherte, kam ich mir plötzlich ziemlich selbstgefällig gegenüber Daniel vor. So als ob ich froh wäre, wenn er, was unsere perfekten Familienmahlzeiten anging, falsch lag. Doch dann wurde mir klar, dass es dumm war, so zudenken. Ich wollte nicht, dass meiner Familie etwas Schlimmes passierte, nur um Daniel irgendetwas zu beweisen. Warum sollte ich mich schuldig fühlen oder mir wie eine Idiotin vorkommen, weil ich eine Familie hatte, die gerne gemeinsame Mahlzeiten einnahm und über die Dinge des Alltags sprach?
Heute Abend allerdings war es viel zu ruhig zum Essen. Ich warf meine Essensreste weg und ging zu Bett. Eine Weile lag ich da, bis die Phantomstimmen wieder den Weg in meinen Kopf fanden. Doch dann wurde mir klar, dass die lauten Geräusche aus unserem eigenen Haus stammten: Meine Eltern schrieen sich unten im Arbeitszimmer an. Es war nicht allzu heftig, sie klangen jedoch zornig und genervt. Mom und Dad hatten gelegentlich eine Auseinandersetzung über dies oder jenes, aber ich hatte sie noch niemals zuvor wirklich
streiten
gehört. Dads Stimme war zwar nicht laut genug, als dass ich seine Worte verstanden hätte, doch ich hörte die Verzweiflung in ihrem Klang. Moms Stimme wurde lauter, wütender und sarkastisch.
»Vielleicht hast du recht«, rief sie. »Vielleicht war es dein Fehler. Vielleicht bist du für all das verantwortlich. Und da wir gerade beim Thema sind, könnten wir ja auch noch die globale Erwärmung hinzufügen? Vielleicht ist das ja auch deine Schuld!«
Ich stand auf und verschloss die Tür, schlüpfte wieder unter meine Decke und zog mir ein Kissen über den Kopf.
KAPITEL 7
Verpflichtungen
Dienstagmorgen
Für gewöhnlich geht Dad frühmorgens joggen, doch als ich mich für die Schule fertig machte, hatte ich ihn noch nicht hinausgehen gehört. Das Licht im Arbeitszimmer brannte, als ich auf meinem Weg in die Küche an der geschlossenen Doppeltür vorbeiging. Ich überlegte zu klopfen, ließ es aber dann doch.
»Du bist aber früh auf«, sagte Mom,
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