Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Gesicht bekam rote Flecken. »Der Rettungssanitäter meinte, dass sie wohl einen Schwächeanfall erlitten hat, als sie aus dem Haus kam. Dad hat Maryannes Tochter in Milwaukee angerufen. Sie ist völlig ausgeflippt und gibt Dad die Schuld. Sie sagt, er hätte besserauf sie achten sollen und sie zu einem Arzt schicken müssen.« Jude wischte seine Nase ab. »Die Leute erwarten echt Wunder von ihm. Aber wie soll man in dieser Welt Wunder bewirken, wenn eine alte Frau über vierundzwanzig Stunden auf ihrer Veranda liegt und es niemand bemerkt?« Tiefe Furchen bildeten sich um Judes Augen. »Sie war ganz eingefroren, Grace. Eingefroren.«
»Wie bitte?« Maryanne wohnte in Oak Park. Die Gegend war nicht annähernd so schlimm wie das Viertel, wo Daniel lebte, allerdings auch keine bevorzugte Wohngegend. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte ich zu lange über einer geöffneten Flasche Lösungsmittel gehangen. Wie viele Menschen mochten wohl an ihr vorbeigegangen sein? »Sie hat eine Menge Pflanzen auf der Veranda, und dann das hohe Geländer … wahrscheinlich hat sie deswegen niemand gefunden.« Zumindest war es das, was ich gerne glauben wollte.
»Aber das ist noch nicht das Schlimmste«, fügte Jude hinzu. »Irgendetwas
hat
sie gefunden. Irgendein Tier oder so … Ein Aasfresser. Sie hatte all diese Verletzungen an den Beinen. Und ihre Kehle war bis zur Speiseröhre aufgerissen. Ich dachte schon, das habe sie getötet, aber die Sanitäter meinten, dass sie schon lange kalt und tot war, bevor es passierte. Da war kein Blut.«
»Was?«, keuchte ich. Daisy, mein Hund, kam mir in den Sinn. Ihre kleine aufgerissene Kehle. Ich unterdrückte den Gedanken zusammen mit der Übelkeit, die aus meinem Magen emporstieg. Ich wollte mir Maryanne einfach nicht auf dieselbe Weise vorstellen.
»Angela Duke behauptet, es sei Dads Schuld, aber das ist nicht wahr.« Jude ließ den Kopf hängen. »Es war meine.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass es deine Schuld war?«
»Ich hatte ihr gesagt, dass sie bestimmt auf der Veranstaltung hätte singen können, wenn sie vorher zum Arzt gegangen wäre. Ich habe Schuldgefühle in ihr geweckt.« Tränen traten ihm in die Augen. »Als ich sie fand, trug sie ihr grünes Sonntagskleid und den Hut mit der Pfauenfeder, den sie immer trägt, wenn sie singt.« Jude verbarg seine Stirn an meiner Schulter. »Sie hat versucht, zur Kirche zu kommen. Sie wollte ihr Solo singen.« Sein Körper taumelte gegen meinen, und er begann zu weinen.
Die Welt schien sich plötzlich viel schneller zu drehen. Ich konnte nicht fassen, dass ich gesungen hatte, während eine alte Frau, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte, in der Kälte gestorben war – allein. Meine Beine gaben nach. Ich sank auf den Boden. Jude fiel ebenfalls hin. Ich saß mitten in der Einfahrt und hielt den Kopf meines Bruders an die Schulter gedrückt. Er weinte und weinte. Ich ließ meine Hand beruhigend über seinen Rücken streichen und dachte an den einzigen Tag zurück, an dem wir uns ebenso fest umklammert gehalten hatten. Nur, dass damals ich getröstet werden musste.
Viereinhalb Jahre zuvor
Es war eine warme Nacht im Mai. Ich hatte vor dem Zubettgehen mein Fenster geöffnet und wurde gegen zwei Uhr in der Früh von lauten Stimmen geweckt. Selbst heute noch, wenn ich nicht schlafen kann, höre ich diese Stimmen – wie gespenstisches Flüstern im nächtlichen Wind.
Mein Zimmer befand sich auf der Nordseite des Hauses, genau gegenüber von Daniels Haus. Sein Fenster musste ebenfalls offen gestanden haben. Die Rufe wurden lauter. Ich hörte einen Aufprall und dann das Geräusch von zerreißender Leinwand. Ich konnte nichts tun. Aber ich konnte auch nicht einfach weiter so daliegen. Ich konnte es nicht länger ertragen, in meiner eigenen Haut zu stecken. Ich musste etwas unternehmen. Also ging ich zu der Person, auf die ich mich am meisten verlassen konnte.
»Jude, bist du wach?« Ich schaute vorsichtig in sein Zimmer hinein.
»Ja.« Er saß auf der Bettkante.
Zu jener Zeit lag Judes Zimmer direkt neben meinem, bevor meine Eltern es in ein Kinderzimmer für James umgewandelt hatten. Die schrecklichen Stimmen waberten durch das offene Fenster herein. Sie waren nicht mehr so laut, wie sie in meinem Zimmer geklungen hatten, aber immer noch genauso beunruhigend. Das Schlafzimmer meiner Eltern lag am anderen Ende auf der Südseite des Hauses. Wenn sie ihr Fenster nicht geöffnethatten, würden sie wahrscheinlich überhaupt
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