Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
diejenige, die wegging.
Später
Ich wusste nicht, wie viele Menschen sich an Daniel Kalbi erinnerten. Er war nur mit ein paar wenigen Freunden zusammen aufgewachsen und bereits vor dem zweiten Schuljahr von der Holy Trinity abgegangen. Ungeachtet dessen erwartete ich jedoch, dass das Auftauchen von jemandem wie Daniel zumindest einiges an Diskussionen und Klatsch auslösen würde. Gleichwohl gab es zurzeit einen anderen Skandal, der durch die heiligen Hallen der Schule fegte und Daniels Rückkehr bei Weitem die Schau stahl: der plötzliche Tod und die Verstümmelung von Maryanne Duke, leidenschaftliche Lehrerin der Sonntagsschule, ehemalige Babysitterin so manchen Schülers und, trotz ihres Alters und ihrer mageren Rente, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei fast jeder Schulveranstaltung.
Zahlreiche Seitenblicke wurden mir zugeworfen, als ich mich von Klasse zu Klasse bewegte, und ich hörte Geflüster hinter vorgehaltenen Händen. Ich war daran gewöhnt, dass die Leute über mich sprachen. Mich beobachteten. Das gehörte einfach dazu, wenn man eine Divine war. Mom sagt immer, ich müsse darauf achten, was ich anzog, wie lange ich ausblieb oder welche Filme ich mir ansehen wollte, weil die Leute ihr eigenes Verhalten daran maßen, was den Pastorenkindern zu tun gestattet war – so als sei ich eine Art wandelndes Moral-Barometer. Doch ich denke, ihre eigentliche Sorge ist, dass die Leute womöglich einen Grund finden könnten,der ihnen erlaubt, schlecht über die Tochter des Pastors zu reden.
So wie der Klatsch, der sich heute breitmachte. Allerdings vernahm ich nur Judes und Dads Namen in den Unterhaltungen, die augenblicklich aufhörten, wenn ich mich näherte. Eine Menge Leute hatte den Anstand, meinen Vater gegen Angela Dukes Vorwurf der Misshandlung in Schutz zu nehmen, doch Geschichten verbreiten sich schnell in einer kleinen Stadt. Es war unvermeidlich, dass wilde Spekulationen über die
Verstrickung
meiner Familie in Maryannes Tod bald überall die Runde machten. Ich vernahm dummes Zeug wie: »Ich habe Mike sagen gehört, der Pastor habe sich geweigert, Maryanne zu ihrem Arzttermin zu bringen, und dann habe er gedroht, er würde sie aus der Gemeinde werfen, wenn sie nicht …«, oder solchen Quatsch, wie ich ihn vor der Turnhalle hörte: »Es heißt, dass Jude irgendwelche Medikamente nimmt, die ihn ganz wütend auf Maryanne gemacht haben, weil sie krank war und …« Ich schäme mich gestehen zu müssen, dass ich selbst deshalb die Regel brach, die ich bei Daniel bezüglich des Fluchens in der Schule aufgestellt hatte.
In diesem traurigen und verzweifelten Zustand, noch dazu anfällig für Flüche und verachtende Blicke, konnte ich mir gut vorstellen, wie Jude sich jetzt fühlen musste. April war die Einzige, die so freundlich – oder ahnungslos – war, mit mir persönlich über die Dinge zu sprechen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert waren.
»Okay«, sagte sie, kaum dass ich mich in der Kunststunde neben sie setzte. »Erstens: Wo zum Kuckuck warst du gestern Abend? Zweitens: Was zum Kuckuck macht
er
hier?« Sie deutete auf Daniel, der hinten in der Klasse saß und die Füße auf den Tisch gelegt hatte. »Drittens: Was zum Kuckuck ist mit deinem Bruder passiert? Ist er okay? Und viertens: Ich hoffe, dass erstens, zweitens und drittens zum Kuckuck nichts miteinander zu tun haben.« Sie schürzte die Lippen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will Antworten, Schwester!«
»Woah«, erwiderte ich. »Also erst mal, es tut mir leid, dass ich dich gestern Abend verpasst habe. Ich bin in einen Stau gekommen.«
»Stau? In einer bestimmten Gegend?« Sie zeigte auf Daniel. »Du warst in der Stadt«, flüsterte sie. »Du warst mit ihm zusammen.«
»Stimmt überhaupt nicht …«
»Ich weiß, dass er in der Innenstadt wohnt. Ich habe ihn heute Morgen an der Haltestelle vom City-Bus gesehen.«
»Das beweist doch gar nichts …«, gab ich zurück. Doch andererseits: Wozu sollte ich lügen? »Okay, ich war da. Aber es war nicht so, wie du denkst.«
»Ach, nein?« April machte diese zickige kleine Kopfbewegung, die ihre Locken herumwirbeln ließen wie die Ohren eines Cockerspaniels.
»Nein, war es nicht. Ich habe lediglich eine Nachricht von Mr Barlow weitergeleitet. Übrigens bist du ja anallem schuld.« Ich ahmte ihre angriffslustige Haltung nach. »Du warst diejenige, die sein Bild eingereicht hat, was dazu führte, dass Barlow ihn wieder in der Klasse haben wollte.«
»Oh
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