Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Fußballen. »Bleib hier«, flüsterte er und huschte in das Dickicht hinein. Gleich darauf war er verschwunden.
»Was … Warte doch!«
Aber er lief weiter.
Und ich bin anscheinend nicht gut darin, die Dinge zu tun, die man mir aufträgt.
»Er ist mein Bruder!«, schrie ich und stapfte wieder in meinen Schuh.
Ich konnte Daniel kaum sehen, als ich ihm folgte. Ab und zu erhaschte ich den Anblick seines Rückens, während er sich den Weg durch die Bäume bahnte. Er war wie ein Tier und lief instinktiv weiter, ohne darauf zu achten, wo seine Füße aufsetzten. Ich hingegen tapste herum und lief gegen Bäume, die scheinbar unvermittelt direkt vor mir aus dem Boden schossen. Zweige knackten unter meinen Schuhen, und ich stolperte über Steine und Wurzeln, während ich versuchte, Schritt zu halten.
Es schien, als hätte er eine Fährte oder Ähnliches aufgenommen. War das überhaupt möglich? Alles, was ich bei jedem stechenden Atemzug riechen konnte, waren vermodernde Blätter und Kiefernnadeln. Diese Gerücheerinnerten mich nur an eins – es war bald Winter. Und wenn Daniel recht hatte, war James jetzt irgendwo hier draußen.
Als die Sonne hinter den schlanken Kiefernstämmen verschwand, sank schlagartig die Temperatur. Hoch aufragende Schatten machten es noch schwieriger, sich einen Weg durch den Wald zu bahnen. Mein Absatz verfing sich in der Wurzel einer großen Kiefer, und ich fiel hin. Der Schmerz durchzuckte meine Arme, als ich zu Boden stürzte. Ich rappelte mich wieder auf, wischte mir die Hände an der Hose ab und hinterließ dabei einen Blutflecken auf dem Stoff.
Ich hielt Ausschau. Daniel war nirgendwo zu sehen. Ein paar Schritte weiter, und ich wäre in einer tiefen Schlucht gelandet. Wenn ich mich nicht verfangen hätte, dann wäre ich gute zehn Meter in die Tiefe gefallen. War Daniel etwa hier hineingestürzt oder war er nach links oder rechts ausgeschert? Ich hielt mich am Ast eines nahen Baumes fest und beugte mich über die steile Schlucht. Unten am Grund konnte ich nur noch mehr Steine und Matsch und dichtes Farnkraut erkennen.
»Daniel!«, rief ich, doch nur das Echo klang zurück. Hätte ich nicht etwas gehört, wenn Daniel gestürzt wäre? Hätte ich nicht seine Spur entdeckt, wenn er hinuntergeklettert wäre?
Ein halbvoller Mond schickte sich an, die Sonne abzulösen. Ich hatte keine Taschenlampe dabei und war auch noch nie so tief in den Wald vorgedrungen. Wie konnteich James oder Daniel jetzt finden? Oder auch nur den Weg zurück? Vielleicht verdiente ich es ja, dass ich jetzt in der Patsche saß. Es war mein Kuchen, der verbrannt war, und ich war diejenige, die das Fenster geöffnet hatte. Im Haus war es von den beiden aufgeheizten Backöfen so heiß und stickig gewesen; und Charity war das offene Fenster nicht aufgefallen, als sie das Baby ins Bett gebracht hatte.
Wie sollte ich bloß ohne James nach Hause gehen?
Ein Heulen erklang in der Leere unter mir und wurde von den Wänden der Schlucht zurückgeworfen. Nur ein Tier hätte solch ein Geräusch machen können. Doch es klang wie ein Ruf der Verzweiflung. Wie ein Wolf, der ängstlich darauf bedacht war, seine Beute zu fassen. Ich musste einen Weg hinunter finden. Ich musste meinen Bruder finden, bevor dieses Tier es tat.
Teile der Schluchtwände waren viel steiler als andere. An einigen Stellen ging es direkt nach unten, doch dort, wo ich stand, schien sich ein passender Abschnitt zu befinden, an dem ich hinunterklettern konnte. Ich fasste nach den Baumwurzeln, die aus diesem abgesackten Stück herausragten, und kletterte, meinen Rücken dem freien Raum zugewandt, über den steilen Abhang. Die Spitze meines Schuhs glitt im Schlamm aus, ich knallte mit der Brust vor den Erdwall und schrie erschreckt auf. Ich rutschte einige Meter hinunter, bevor es mir gelang, meine Hand in ein Gewirr aus Baumwurzeln direkt über meinem Kopf zu krallen. Mit letzter Kraft hielt ich mich fest, wobei mir die Wurzeln wie Blitze in meine verletzteHand schnitten. Ich versuchte, mit meinen hin und her baumelnden Füßen auszumachen, wie weit ich vom Grund entfernt war. ›Lass es bitte nur ein paar Meter sein!‹ Viel länger konnte ich mich nicht mehr halten.
»Du bist sicher!«, rief Daniel von irgendwo unter mir. »Stoß dich ab und lass los, dann fange ich dich auf.«
»Ich kann nicht!«, gab ich zurück. Seine Stimme schien mir viel zu weit entfernt – zu weit weg, um hinunterzuspringen. Ich konnte nicht einmal hinsehen.
»Es ist genauso
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