Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Daniels Atem ganz gleichmäßig. Als ich dachte, dass ich nicht weiterlaufen könne, passierte es: Ich spürte einen Energiestrom, der sich von Daniels Hand auf meine übertrug. Diese Verknüpfung, diese Rettungsleine aus dem Garten der Engel band uns wieder zusammen. Nur, dass dieses Mal die Energie durch meinen ganzen Körper strömte. Ich spürte mit einem Mal eine befreiende Erleichterung, und ich wusste, dass ich bei Daniel ganz sicher war, während ich mit geschlossenen Augenweiterrannte. Ich entspannte mich und ließ seine anmutigen Bewegungen durch mich hindurchschwingen, ließ mich von ihm durch die Dunkelheit leiten, während wir völlig selbstvergessen in die Nacht liefen.
Noch nie hatte ich mich so frei gefühlt.
Ich hatte fast vergessen, wo ich war, als Daniel sich mit einem Mal an mich lehnte. »Fast geschafft«, sagte er. Er ließ meine Hand los und schob seine Finger über meinen Arm. Mit einer fließenden Bewegung umfasste er meinen Bizeps und hob mich vom Boden auf seinen Rücken. »Halt dich fest.«
Ich legte meine Arme um Daniels Hals und klemmte meine Beine um seine beinahe kaum vorhandenen Jungenhüften. James kicherte und zog an meinem Haar. Ich sah bestimmt ziemlich lustig aus. Plötzlich nahm Daniel noch mehr Geschwindigkeit auf. Wir schossen nach vorn, und ich öffnete meine Augen gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass er kopfüber auf die Wand der Schlucht zustürzte. Er sprang auf einen umgestürzten Baum und machte einen Satz nach oben.
Daniel griff nach einer Wurzel, doch berührte sie kaum. Er stieß sich von der Wand ab und flog zwei weitere Meter den Abhang hinauf. Seine Füße berührten einen vorstehenden Felsbrocken, und er sprang weiter. Ich rutschte von seinen Hüften, meine Finger krallten sich in seinen Hals. James fasste nach meinen Armen. Mit nur einer Hand packte Daniel einen Ast, der über den Rand der Schlucht hinausragte. Und dann waren wir oben und über den Rand hinweg. In Sicherheit.
Daniel lief ein paar Schritte weiter in den Wald hinein und beugte sich dann keuchend nach vorn. Ich rutschte von seinem Rücken, und alle drei purzelten wir auf den schlammbedeckten Boden. Einen Moment lang lag ich neben Daniel, mein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung und Erstaunen. »Das … das … war …«
Ich hatte einmal zwei Wochen lang Videos von Querfeldein-Rennen ansehen müssen, weil meine Zimmernachbarin aus dem Ferienlager, Adlen, sich heftigst in einen französischen Free-Style-Läufer verliebt hatte. Doch im Vergleich zu diesen Filmen waren die Dinge, die Daniel heute getan hatte, noch dazu mit James und mir im Schlepptau, nicht menschenmöglich.
Daniel sah mich an; seine Augen funkelten im Mondlicht.
James klatschte in die Hände und kreischte: »Mehr!«
Daniel holte tief Luft. »Aber jetzt sind wir zu Hause, mein Kleiner.« Er zog James aus der Trage und deutete durch das Unterholz auf unser Wohnviertel, wo die Lichter wie ein Leuchtfeuer in einiger Entfernung strahlten.
James zog enttäuscht einen Schmollmund; ich empfand ganz ähnlich.
Daniel rollte sich auf den Bauch. Er atmete immer noch heftig. Ich befühlte den Riss in seinem T-Shirt und stellte fest, dass der Schlitz zwar blutdurchtränkt war, seine Haut jedoch keine Verletzung aufwies. Nur eine lange, raue Narbe, wo eine blutende Wunde hätte sein müssen. Ich strich mit der Fingerspitze über das warme, rosafarbene Mal. Daniel schien zurückzuweichen, seufzte aberdann, als ob die Berührung meines Fingers seine Haut beruhigte.
»Wie … ich meine …
Was
bist du?«, fragte ich.
Daniel lachte. Ein echtes Lachen. Kein Prusten oder sarkastisches Kichern. Er stand auf und reichte mir seine Hand. »Es ist wohl am besten, wenn wir weitergehen«, sagte er und half mir auf die Füße. Er hob James auf und machte uns ein Zeichen, dass wir zu unserem Haus gehen sollten.
Ich runzelte die Stirn. Erwartete er wirklich, dass ich jetzt einfach so wegging?
»Bitte sag mir, wie du das alles gemacht hast. Es war so völlig ungewöhnlich.«
»Lass uns erst mal deinen Bruder nach Hause bringen. Wir reden, wenn das alles hier vorbei ist. Ich verspreche es.«
»Versprechen werden doch fast immer gebrochen, oder?«
Daniel strich mir mit der Hand über die Wange.
James fing an zu husten. Sein Atem strömte wie Nebel zwischen seinen Lippen hervor. Mir war vom Laufen so warm geworden, dass ich völlig vergessen hatte, wie kühl es war. Ich spürte, wie mir ein Schauer über die verschwitzten Arme lief, und mir war
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