Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
verbringen, hielt ich es zu Hause nicht aus. So endete ich dann bei meinem Vater in der Pfarrkirche und half ihm bei der immer mittwochs stattfindenden Nacht-Bibelstunde. Hier lief ich meiner Ansicht nach am wenigsten Gefahr, auf Daniel zu treffen.
Ich hätte es besser wissen sollen.
Ich half Dad, Arbeitsbücher und zusätzliche Bibeln auszuteilen, und machte mich dann in der Küche der Pfarrkirchenützlich. Dort arrangierte ich Moms Schokobrownies auf einem Silbertablett und legte eine kleine Zuckerstange in jeden Becher mit heißem Kakao. Die Brownies waren für später gedacht, den Kakao verteilte ich schon mal an die rotnasigen Gäste, die Dads melodischem Vortrag aus der Bibel lauschten. Seine Stimme klang wie ein Schlaflied, und Don Mooneys Augen waren schwer, als ich ihm den letzten dampfenden Becher reichte.
»Danke, Miss Grace.« Er blinzelte und nahm einen Schluck.
Ich setzte mich auf den freien Stuhl neben ihn. Ich war erstaunt, dass Dad nicht die Geschichte von Jesu Geburt vorlas, wie er es sonst so kurz vor Weihnachten immer tat. Anstatt von Krippen, Hirten und Engeln zu erzählen, trug er die verschiedenen Gleichnisse Christi vor. Ich spürte, wie auch meine Augen etwas schwer wurden, bis ich die Außentüren der Pfarrkirche sich quietschend öffnen hörte. In der Vorhalle waren Schritte zu vernehmen, und ich bereute, dass ich nicht ein paar zusätzliche Becher mit heißer Schokolade vorbereitet hatte.
»Wenden wir uns jetzt dem verlorenen Sohn zu«, sagte mein Vater.
Ich blätterte die Seiten meiner Bibel weiter bis zu Lukas 15, und wie aufs Stichwort schlüpfte Daniel in den Raum. Während er sich nach einem freien Platz umsah, hauchte er warmen Atem in seine Hände und bemerkte plötzlich, dass ich ihn beobachtete. Ich blickte schnell hinunter auf die Bibel in meinem Schoß.
Dads Stimme fuhr ohne Unterbrechung fort. Er las das Gleichnis vom Vater vor, der zwei Söhne hatte. Der eine Sohn war gut, standhaft und arbeitete hart; der andere nahm seines Vaters Geld und verprasste es für Mädchen und eine ausschweifende Lebensweise. Doch das Leben des zweiten Sohns versank in so tiefe Abgründe, dass er beschloss, zu seinem Vater zurückzukehren und ihn um Hilfe zu bitten. Dad trug weiter vor, wie der Vater sich freute, als der verlorene Sohn wiederkam, ihn speiste und kleidete und alle Freunde zusammenrief, um das freudige Ereignis zu feiern. Doch der gute Sohn, der den Lehren seines Vaters treu Folge geleistet hatte, war wütend und eifersüchtig auf seinen Bruder und weigerte sich, ihn willkommen zu heißen.
Als Dad den letzten Vers beendet hatte, fragte er: »Warum fiel es dem
guten
Sohn so schwer, seinem Bruder zu vergeben?«
Sein veränderter Tonfall schreckte die Zuhörer auf. Ein paar Leute sahen sich um und rätselten anscheinend, ob diese Frage rhetorisch gemeint war.
»Mrs Ludwig«, sagte Dad zu der älteren Frau in der ersten Reihe, »als Ihr Sohn letztes Jahr Ihren Wagen gestohlen und beschädigt hatte, warum war es so schwer, ihm zu vergeben?«
Mrs Ludwig errötete leicht. »Weil er es nicht verdient hatte. Er hatte nicht einmal gesagt, dass es ihm leid täte. Doch die Bibel«, sie klopfte auf ihre abgegriffene und mit Initialen versehene Ausgabe, »lehrt uns, dass wir vergeben müssen.«
»Sehr richtig«, sagte Dad. »Wir vergeben den Menschen nicht, weil sie es verdienen. Wir vergeben ihnen, weil sie es brauchen, weil
wir
es brauchen. Ich bin sicher, dass Sie sich viel besser fühlten, nachdem Sie Ihrem Sohn vergeben hatten.«
Mrs Ludwig schürzte die Lippen und nickte.
Mein Nacken glühte. Ich wusste es, ohne hinsehen zu müssen. Daniel starrte mich an.
»Aber warum ist es so schwer zu vergeben?«, fragte Mrs Connors.
Don blinzelte und schnaubte, schnarchte dann weiter.
»Stolz«, sagte Dad. »Dieser Mensch hat dir bereits irgendein Unrecht getan, und nun bist
du
derjenige, der seinen Stolz hinunterschlucken und etwas aufgeben muss, um ihm zu vergeben. Tatsächlich sagt die Heilige Schrift, dass wenn du deinen Stolz aufrechterhältst und dich entschließt, jemandem nicht zu vergeben, so bist du derjenige, der eine viel größere Sünde begeht. Der gute Sohn in dieser Geschichte ist tatsächlich in viel ernsterer Gefahr als sein verlorener Bruder.«
»Sollte dann der verlorene Bruder geliebt werden, egal, was er auch getan hat?«, fragte Daniel aus seiner Ecke.
Ich sprang von meinem Stuhl auf. Das war einfach zuviel. Dad blickte mich fragend an. »Brownies!«,
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