Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
erledigende Besorgung in Gefahr brachte.
An diesem Nachmittag schickte mich Dad mit einer Einkaufsliste zu Day’s Market. Es war seine Aufgabe, das Abendessen zu bereiten, während Mom in einer Spätschicht an der Klinik arbeitete; etwas, das sie seit Thanksgiving häufiger tat, um James nicht in die Tagesbetreuung geben zu müssen.
Ich bog gerade in den Gang mit Konserven ein, als ich buchstäblich in Daniel hineinlief, der sich zu einer Dose Erbsen hinuntergebeugt hatte. Er richtete sich auf und drehte sich um. Er trug eine Day’s Market Arbeitsschürze und hielt ein Teppichmesser in der Hand, dessen Spitze mit Blut verschmiert war. Er verzog das Gesicht, und ich sah, dass er einen langen fiesen Schnitt auf dem Handrücken hatte.
»Entschuldigung«, murmelte ich und versuchte, um ihn herumzugehen.
Er trat einen Schritt in den Gang und blockierte meinen Weg. »Grace.« Der Schnitt auf seiner Haut heilte ab, während er die Hand auf meinen Einkaufskorb legte und mich am Weitergehen hinderte. »Wir müssen reden – allein.«
Ich sah auf das blutige Teppichmesser, das er gegen seine Schürze drückte.
Der Wolf strebt danach zu töten, was er am meisten liebt.
»Ich kann nicht.« Ich ließ meinen Korb los, wich zurück und rannte aus dem Supermarkt.
Dad fragte nicht, wieso ich ohne Zutaten für gebratene Hühnerfilets nach Hause kam. Stattdessen machte er Makkaroni mit Käse. Ohnehin aßen nur Don, James und ich mit ihm zu Abend. Und ich war keineswegs überrascht, als mein Vater Don fragte, wie Daniel sich denn bei der Arbeit im Supermarkt mache.
»Wirklich sehr gut«, entgegnete Don. »Mr Day ist so aufgeregt wegen Jess, da konnte er Hilfe gut gebrauchen. Glücklicher Zufall, dass Daniel gerade einen Job suchte.«
›Oder eine passende Gelegenheit‹, dachte ich, wenngleich es Judes Stimme war, die voller Sarkasmus in meinem Kopf widerhallte.
Ich schob meinen Teller weg. Daniel hatte Maryanne gern gemocht. Sie hatte ihm das Gefühl gegeben, geborgen zu sein und geliebt zu werden. Und jetzt, wo sie nicht mehr da war, hatte er einen angenehmen Ort zum Wohnen. Daniel hatte James vorher nie gesehen, doch er liebte diese Familie. James zu ›retten‹, hatte Daniel in den Augen meiner Familie zum Helden gemacht, wenn auch nur für einen Augenblick. Daniel und Jess waren viele Jahre in dieselbe Klasse gegangen. Sie hatte in Oak Park gelebt, als er dort mit seiner Mutter war. Und dann war sie in die Innenstadt gezogen und wohnte dort bis zu ihrem Verschwinden. Aus Daniels Geständnissen wusste ich nur zu gut, dass ich nicht das erste Mädchen in seinem Leben war. Die Leute hatten Jess immer als ›schwierig‹bezeichnet. War sie nicht genau so ein Mensch, den Daniel sich nach eigener Aussage als Gefährtin aussuchen würde? War es möglich, dass er einmal Jessica Day geliebt hatte?
Alles, was ich wusste, war, dass sie vermisst wurde und Daniel einen guten Job hatte, der ihn trotzdem die Anforderungen an Barlows Unterricht erfüllen ließ. Was bedeutete, dass er auf unbestimmte Zeit in Rose Crest bleiben konnte.
Eine passende Gelegenheit. Es schien wirklich fast
zu
passend.
Doch wozu? Waren die Angriffe auf Menschen, an denen ihm etwas lag, zufällig? Oder dienten sie einem bestimmten Zweck? Wiesen sie in eine bestimmte Richtung?
Brachten sie ihn näher zu … mir?
Irgendetwas tief in meinem Inneren sagte mir, dass meine Zweifel an Daniel falsch sein mussten. Dad hatte diese Briefe gelesen. Er wusste, dass Daniels innerer Wolf sich gegen Menschen richtete, die er liebte, und dennoch ließ Dad ihn bei uns bleiben. Er hatte ihm geholfen, diese Wohnung zu bekommen. Er hatte ihm geholfen, diesen Job zu bekommen. Er hätte diese Dinge nicht getan, wenn er der Ansicht gewesen wäre, dass Daniel andere Menschen verletzte oder mir etwas antat.
Der springende Punkt war, dass ich ganz ähnlich über Judes Anschuldigungen dachte. Wenn Daniel wirklich beabsichtigt hätte, meinen Bruder zu töten, so dachte ich, hätte Dad ihn niemals in die Nähe unserer Familie gelassen. Doch dabei lag ich falsch. Er hatte Daniel geholfen,obwohl er wusste, was er getan hatte und was er war.
Hatte Jude Recht? Hatte Daniel meinen Dad irgendwie verhext?
Oder wusste Dad einfach nur etwas, das ich nicht wusste?
Raus aus dem Haus
Ich weiß nicht wieso, aber in dieser Nacht konnte ich das Buch der Briefe in meinem Zimmer nicht weiterlesen. So als könnten die Worte, die in ihm wiedergegeben wurden, von jedermann im Haus
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