Urbi et Orbi
Seine Seele braucht unsere Gebete. Der Gedanke, sie könnte die Wahrheit über Clemens ’ Tod wissen, war völlig verrückt.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass du heute Nachmittag Zeuge einer Marienerscheinung geworden bist?«, fragte Katerina. »Die Frau war völlig überspannt.«
»Ich glaube, Jasnas Visionen gehören ihr allein.«
»Ist das deine Art auszudrücken, dass die Madonna heute nicht da war?«
»So wenig wie sie in Fatima oder Lourdes oder La Salette war. «
»Jasna erinnert mich an Lucia«, bemerkte Katerina. »Bei unserem Treffen mit Hochwürden Tibor in Bukarest wollte ich nichts sagen. Aber vor ein paar Jahren habe ich einen Artikel über Lucia geschrieben, und ich weiß noch, dass sie als ein Mädchen mit schweren familiären Problemen geschilder t w urde. Ihr Vater war Alkoholiker. Sie wurde von ihren älteren Schwestern erzogen. Sieben Kinder im Haus, und sie war die Jüngste. Kurz vor dem Beginn der Erscheinungen verlor ihr Vater einen Teil des Familienlandes, einige ihrer Schwestern heirateten, und die anderen suchten sich Arbeit außerhalb. Sie blieb mit einem Bruder, der Mutter und dem trunksüchtigen Vater zurück. «
»Etwas Ähnliches stand auch im Bericht der Kirche«, erwiderte Michener. »Der mit der Untersuchung betraute Bischof ging allerdings davon aus, dass ein solcher Hintergrund zur damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches darstellte. Bei meinen Recherchen bereiteten mir eher die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen Fatima und Lourdes Kopfzerbrechen. Der Gemeindepriester in Fatima bezeugt sogar, dass einige Worte der Heiligen Jungfrau mit denen in Lourdes praktisch identisch waren. Die Visionen von Lourdes waren in Fatima bekannt, und Lucia wusste darüber Bescheid.« Er trank einen Schluck Bier. »Ich habe die Berichte über alle Marienerscheinungen der letzten vierhundert Jahre gelesen. Viele Details stimmen immer wieder überein. Es handelt sich immer um Hirtenkinder, insbesondere um Mädchen mit geringer oder gar keiner Schulbildung. Visionen in freier Natur. Eine wunderschöne Dame. Geheimnisse des Himmels. Ganz schön viele Zufälle.«
»Dazu kommt noch, dass alle Berichte erst Jahre nach den Erscheinungen aufgeschrieben wurden«, fügte Katerina hinzu. »Da konnte man mühelos einige Details hinzufügen, um das Ganze glaubwürdiger zu machen. Ist es nicht sonderbar, dass keiner der Visionäre die Botschaften unmittelbar im Anschluss enthüllte? Immer vergehen erst Jahrzehnte, bevor die Details nach und nach durchsickern.«
Michener stimmte ihr zu. Lucia hatte erst 1925 einen detaillierten Bericht abgegeben und dann noch einmal 1944. Es wurde oft behauptet, dass sie ihre Botschaften erst da mit späteren Fakten ausgeschmückt habe. So etwa, als sie die Papstzeit Pius XI., den Zweiten Weltkrieg und den Aufstieg Russlands erwähnte, allesamt Ereignisse, die nach 1917 eintraten. Da Francisco und Jacinta tot waren, konnte ja auch niemand ihrem Zeugnis widersprechen.
Noch eine weitere Tatsache ließ sich nicht abstreiten:
Im Juli 1917 hatte die Jungfrau im zweiten Geheimnis von Fatima verlangt, Russland ihrem Unbefleckten Herzen zu weihen. Russland war aber damals noch eine fromme, christliche Nation. Die Kommunisten kamen erst Monate später an die Macht. Welchen Sinn hätte es da gemacht, Russland zu weihen?
»Die Seher von La Salette waren psychische Wracks«, sagte Katerina gerade. »Maxims Mutter starb in seiner frühen Kindheit, und seine Stiefmutter schlug ihn. Bei der ersten Befragung nach seiner Vision berichtete er von einer Mutter, die sich darüber beschwert, dass ihr Sohn sie schlägt. Von der Jungfrau Maria war gar nicht die Rede.«
Er nickte. »Die veröffentlichten Versionen der Geheimnisse von La Salette liegen in den Archiven des Vatikans. Maxim berichtete von einer rachsüchtigen Jungfrau, die Hungersnöte ankündigte und Sünder mit Hunden verglich.«
»So etwas könnte ein verstörtes Kind ohne weiteres über eine Mutter sagen, die es misshandelt. Seine Stiefmutter ließ ihn oft zur Strafe hungern. «
»Er ist jung gestorben, gebrochen und bitter«, fügte Michener hinzu. »Mit einer der ersten beiden Seherinnen hier in Bosnien war es ähnlich. Einige Monate vor der ersten Vision hatte sie ihre Mutter verloren. Und die anderen Kinder hatten ebenfalls familiäre Probleme. «
»Das alles sind Halluzinationen, Colin. Aus gestörten Kindern wurden verwirrte Erwachsene, die ihre Phantasien von einst für bare Münze nehmen. Die Kirche
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