Urbi et Orbi
Da winkte sie wieder. Sie war, einschließlich der Turnschuhe, noch genauso gekleidet wie bei ihrem Treffen, und das Kleid klebte an ihrem schmalen Körper. Ihr langes Haar war patschnass, doch das Unwetter schien ihr nichts auszumachen.
Wieder das Winken.
Er drehte sich zu Katerina um. Sollte er sie wecken? Dann starrte er wieder aus dem Fenster. Jasna schüttelte den Kopf, nein, und winkte ein weiteres Mal.
Verdammt. Konnte sie Gedankenlesen?
Er merkte, dass ihm keine Wahl blieb, und schlüpfte lautlos in seine Kleider.
E r trat aus dem Hotelausgang.
Jasna stand noch immer auf der Straße.
Oben zuckte ein Blitz, und aus dem schwarzen Himmel prasselte der Regen. Michener hatte keinen Regenschirm.
»Was machen Sie hier?«, fragte er.
»Wenn Sie das zehnte Geheimnis erfahren wollen, kommen Sie mit. «
»Wohin?«
»Müssen Sie ständig alles hinterfragen? Können Sie niemals einfach glauben?«
»Wir stehen mitten im heftigen Regen.«
»Das reinigt Körper und Seele.«
Die Frau machte ihm Angst. Vielleicht weil er das Gefühl hatte, ihr nichts entgegensetzen zu können.
»Mein Wagen steht dort drüben«, sagte sie.
Am Straßenrand parkte ein klappriger Ford Fiesta. Er folgte ihr zum Auto, und sie fuhren aus der Stadt und hielten auf einem leeren Parkplatz am Fuß eines Bergs. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf ein Hinweisschild: KREUZBERG.
»Warum hier?«, fragte er.
»Ich weiß es auch nicht.«
Er hätte sie gerne gefragt, wer denn wohl dann Bescheid wusste, ließ es dann aber. Es war offensichtlich Jasnas Show, und sie verlief genau nach Plan.
Sie stiegen aus, und er folgte ihr durch den Regen zu einem Pfad. Der Boden war matschig und der Fels rutschig.
»Gehen wir zum Gipfel?«, fragte er.
Sie drehte sich um. »Wohin denn sonst?«
Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was die Führerin im Bus über den Berg erzählt hatte: Er war mehr als fünfhundert Meter hoch, und oben stand ein Kreuz, das in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts von der Kirchengemeinde errichtet worden war. Dieses Kreuz stand zwar ursprünglich nicht mit den Erscheinungen in Beziehung, doch es gehörte mit zur › Medjugorje-Erfahrung ‹ , zum Gipfel hinaufzuwandern. Heute Nacht allerdings nahm niemand diese Gelegenheit wahr. Auch Michener war nicht gerade begeistert von der Vorstellung, mitten in einem Unwetter mit Blitz und Donner auf einen fünfhundert Meter hohen Gipfel zu steigen. Doch Jasna schien das überhaupt nicht zu stören, und sonderbarerweise gab ihr Mut ihm Kraft.
War das Glaube?
Das Wasser, das in kleinen Bächen den Weg herabströmte, machte den Aufstieg noch schwerer. Micheners Kleider waren klatschnass, seine Schuhe schlammverklebt. Der Weg wurde nur hin und wieder durch einen Blitzstrahl erhellt. Er machte den Mund auf und ließ den Regen auf seine Zunge fallen. Oben grollte der Donner. Das Gewitter musste genau über ihnen sein.
Nach einem zwanzigminütigen, anstrengenden Aufstieg tauchte der Gipfel vor ihnen auf. Die Beine taten ihm weh, und es zog heftig in seinen Waden.
Vor ihm erhob sich im Dunkeln der Umriss eines großen, weißen Kreuzes, etwa zwölf Meter hoch. An seinem Betonsockel lagen Blumensträuße im peitschenden Wind. Einige Blumen hatte der Sturm auch durch die Gegend geweht.
»Sie kommen aus der ganzen Welt«, sagte Jasna auf die Blumen deutend. »Sie steigen hier herauf, legen ihre Gaben nieder und beten zur Jungfrau. Dabei ist sie hier niemals erschienen. Trotzdem kommen die Leute. Ihr Glaube ist bewunderungswürdig. «
»Meiner dagegen nicht?«
»Sie haben keinen Glauben. Ihre Seele ist in Gefahr.«
Ihr Tonfall war vollkommen sachlich, etwa so, wie wenn eine Hausfrau ihren Mann bittet, den Müll rauszutragen. Ein Blitzschlag zerriss den Himmel in zackige Strahlen blau-weißen Lichts. Er wartete, und dann grollte der unvermeidliche Donner wie eine Basstrommel im Einsatz. Er beschloss, die Auseinandersetzung mit der Seherin zu suchen. »Was gibt es denn hier zu glauben? Sie haben überhaupt keine Ahnung von Religion.«
»Ich weiß nur von Gott. Religionen werden von Menschen geschaffen. Man kann sie verändern, abwandeln oder auf den Müllhaufen der Geschichte befördern. Gott aber nicht. «
»Aber Menschen berufen sich zur Rechtfertigung ihrer Religion auf die Macht Gottes.«
»Das hat nichts zu bedeuten. Solche Männer wie Sie sollten das ändern.«
»Wie sollte mir das möglich sein?«
»Indem Sie glauben, vertrauen, den Herrn lieben und tun, was
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