Urbi et Orbi
ein Bild hervortrat.
Eine Frau.
Sie trug ein graues, hellblau gesäumtes Kleid. Ein weißer Schleier hing vor ihrem Gesicht und betonte die langen, kastanienbraunen Locken. Sie hatte ausdrucksvolle Augen, und ihre Gestalt schillerte in allen möglichen Farben von Weiß über Blau bis zu einem ganz hellen Gelb.
Er kannte dieses Gesicht und dieses Kleid. Es war die Statue, die er in Jasnas Haus gesehen hatte. Unsere Liebe Frau von Fatima.
Das Licht wurde weniger gleißend. Obgleich ihm alles andere noch immer vor Augen verschwamm, konnte er die Frau deutlich sehen.
»Stehe auf, Father Michener«, sagte sie mit sanfter Stimme.
»Ich … ich hab ’ s versucht … Ich kann nicht«, stammelte er.
»Steh auf.«
Er stand auf. Es war ihm nicht mehr schwindlig. Sein Magen gab Ruhe. Er sah zum Licht. »Wer sind Sie?«
»Das weißt du nicht?«
»Die Jungfrau Maria?«
»Du sagst das, als wäre es eine Lüge.«
»Das wollte ich nicht.«
»Du wehrst dich heftig. Ich verstehe, warum du auserwählt wurdest.«
»Wozu auserwählt?«
»Seit langem habe ich den Kindern versprochen, ein Zeichen für alle Ungläubigen zu hinterlassen.«
»Jasna kennt jetzt also das zehnte Geheimnis?« Es ärgerte ihn, dass er diese Frage gestellt hatte. Schlimm genug, dass er Halluzinationen hatte, aber jetzt unterhielt er sich auch noch mit seinen eigenen Hirngespinsten.
»Sie ist eine Gesegnete. Sie hat getan, was der Himmel von ihr verlangte. Andere Männer, die sich fromm nennen, können nicht dasselbe von sich behaupten.«
» Clemens XV. ?«
»Ja, Colin. Ich gehöre auch dazu.«
Die Stimme klang jetzt dunkler, und das Bild verwandelte sich in Jakob Volkner. Er stand in vollem Papstornat da – Humerale, Zingulum, Stola, Papstkrone und Pallium – es war die Kleidung, in der er bestattet worden war, und er hielt einen Hirtenstab in der rechten Hand. Der Anblick bestürzte Michener. Was war das?
»Jakob?«
»Missachte die Wünsche des Himmels nicht länger, mein Sohn. Führe aus, worum ich dich gebeten habe. Vergiss nicht: Ein treuer Diener ist nicht zu verachten.«
Genau diese Worte hatte Jasna ihm gegenüber gebraucht. Aber es lag ja nahe, dass er beim Halluzinieren auf Erlebtes zurückgriff. »Was ist meine Bestimmung, Jakob?«
Die Erscheinung verwandelte sich in Hochwürden Tibor. Der Priester sah genauso aus wie bei ihrer ersten Begegnun g i m Waisenhaus. »Ein Zeichen für die Welt zu sein. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott lebendig ist. «
Bevor er etwas erwidern konnte, war wieder das Bild der Jungfrau da.
»Handele so, wie dein Herz es dir befiehlt. Daran ist nichts Böses. Aber halte an deinem Glauben fest, denn am Ende wird er das Einzige sein, was dir bleibt.«
Die Erscheinung stieg nach oben und verwandelte sich in einen gleißenden Lichtball, der in die Nacht zurückwich. Je weiter das Licht sich entfernte, desto stärker schmerzte sein Kopf. Als es schließlich verschwunden war, fühlte er sich sehr schwindlig, und ihm drehte sich der Magen um.
47
Vatikanstadt, 7.00 Uhr
D as Frühstück im Speisesaal des Domus Sanctae Marthae verlief recht düster. Etwa die Hälfte der Kardinäle nahm schweigend Eier, Schinken, Obst und Brot zu sich. Viele beschränkten sich auch nur auf Kaffee oder Saft, doch Valendrea lud sich seinen Teller am Frühstücksbuffet voll. Er wollte allen Versammelten zeigen, dass die Ereignisse vom Vortag ihn kalt ließen und er immer noch seinen legendären Appetit hatte.
Er setzte sich mit ein paar Kardinälen an einen Fenstertisch. Es war eine wild gemischte Gruppe; die Männer kamen aus Australien, Venezuela, der Slowakei, dem Libanon und Mexiko. Zwei von ihnen rechnete er zu seinen Unterstützern, doch die anderen drei gehörten vermutlich zu den elf, die sich noc h n icht festgelegt hatten. Sein Blick fiel auf Ngovi, der gerade den Speisesaal betrat. Der Kardinal unterhielt sich lebhaft mit zwei Kardinälen. Vielleicht gab auch er sich Mühe, sich nur ja keine Unruhe anmerken zu lassen.
»Alberto«, sagte einer der Kardinäle an seinem Tisch.
Er warf einen Blick auf den Australier.
»Haben Sie Vertrauen in den heutigen Tag. Ich habe den ganzen Abend gebetet und spüre, dass heute Vormittag etwas geschehen wird. «
Valendrea antwortete scheinbar ungerührt: »Gottes Wille leitet uns. Möge der Heilige Geist heute mit uns sein, das ist meine einzige Sorge.«
»Sie sind die logische Wahl«, sagte der libanesische Kardinal. Seine Stimme war lauter als
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