Urbi et Orbi
diskriminiert und verfolgt. Zlatna mit seinen Holzhäusern, Veranden und dem Bahnhof im Mogul-Stil erinnerte Katerina an das Dorf ihrer Großeltern. Während Zlatna jedoch von den in dieser Gegend häufigen Erdbeben verschont geblieben war und Ceau º escus Kollektivierungen überstanden hatte, war das Dorf ihrer Großeltern wie zwei Drittel der ländlichen Gemeinden systematisch abgerissen worden; die Einwohner hatte man in triste Wohnblocks umquartiert. Die Eltern ihrer Mutter waren schändlicherweise sogar gezwungen worden, das eigene Haus einzureißen. Bäuerliche Erfahrung mit marxistischer Effizienz verbinden , so hieß das. Traurigerweise hatten nur wenige Rumänen das Verschwinden der Zigeunerdörfer beklagt. Katerina erinnerte sich, wie sie später die Großeltern in der neuen, anonymen Wohnung besucht hatte. Die schäbigen grauen Räume waren nicht mehr vom Geist der Vorfahren beseelt, das Eigentliche, die Lebendigkeit, war verschwunden. Und genau darum war es ja gegangen. Später in Bosnien nannte man das ethnische Säuberungen . Ceau º escu benutzte lieber den Ausdruck Fortschritt . Katerina selbst nannte es Wahnsinn. Mit den Bildern und Geräuschen Zlatnas kamen auch all diese hässlichen Erinnerungen zurück.
Von einem Schuster erfuhr Katerina, dass es im Umkreis drei staatliche Waisenhäuser gab. Das Haus, in dem Tibor arbeitete, hatte den schlimmsten Ruf. Es lag westlich der Stadt und war für todkranke Kinder bestimmt, von denen es infolge Ceau º escus wahnwitziger Politik viele gab.
Der Diktator hatte Empfängnisverhütung verboten und erklärt, bis zum Alter von fünfundvierzig Jahren solle jede Frau mindestens fünf Kinder zur Welt bringen. Die Folge war ein Kinderreichtum, mit dem viele Eltern nicht mehr fertig wurden. Zahlreiche Säuglinge wurden einfach ausgesetzt. AIDS, Tuberkulose, Hepatitis und Syphilis forderten ihren Tribut. Schließlich sch oss en überall Waisenhäuser empor, die kaum mehr waren als Müllhalden. Um die ungewollten Kinder mussten sich nun Fremde kümmern.
Außerdem hatte Katerina erfahren, dass Tibor Bulgare war und sich dem achtzigsten Lebensjahr näherte – vielleicht hatte er es auch schon überschritten, das wusste keiner so genau. Er war als frommer Mann bekannt, der sich im Rentenalter um Kinder kümmerte, die bald vor ihren Gott treten würden. Sie fragte sich, wie viel Mut man brauchte, um ein sterbendes Kleinkind zu trösten oder einem Zehnjährigen zu erzählen, dass er nun bald an einen Ort käme, wo er es besser haben würde. Sie selbst glaubte nichts dergleichen. Sie war seit jeher Atheistin. Die Religion war von Menschen gemacht worden – genau wie Gott selbst. Sie betrachtete den Glauben als eine andere Art von Politik. Wie bekam man die Massen besser in den Griff als durch die Angst vor dem Zorn eines allmächtigen Wesens? Besser, man vertraute auf sich selbst, glaubte an seine eigenen Fähigkeiten und kam mit eigener Kraft in der Welt voran. Beten war etwas für die Schwachen und Trägen. Sie hatte so etwas niemals gebraucht.
Abermals ein Blick auf die Uhr: kurz nach halb.
Es wurde Zeit, zum Waisenhaus zu gehen.
Sie machte sich auf den Weg und überquerte den Platz. Darüber, was zu tun war, wenn Michener eintraf, musste sie sich noch klar werden.
Aber ihr würde schon was einfallen.
M ichener erblickte das Waisenhaus und nahm den Fuß vom Gas. Einen Teil der Fahrt von Bukarest hatte er auf der Autostrada zurückgelegt, einer überraschend gut ausgebauten vierspurigen Schnellstraße. Ganz anders war dagegen die Landstraße gewesen, auf der er zuletzt gefahren war. Die Straßenränder waren zerbröckelt, der Asphalt von Schlaglöchern wie Mondkratern überzogen, und die Wegweiser waren so verwirrend, dass er sich zweimal verfahren hatte. Vor kurzem hatte er die eindrucksvolle Schlucht des Flusses Olt überquert, die zwischen zwei bewaldeten Bergrücken eingeschnitten war. Auf dem Weg nach Norden hatte die Landschaft sich verändert. Wiesen und Felder waren Hügeln und schließlich dem Gebirge gewichen. Unterwegs hatte Michener immer wieder die schwarzen Rauchfahnen von Fabrikschloten gesehen, die sich schlangengleich in den Himmel wanden.
Bei einem Metzger in Zlatna hatte er sich nach dem Priester erkundigt und erfahren, wo dieser zu finden war. Das Waisenhaus lag in einem zweigeschossigen Gebäude. Die Löcher und Narben in dem roten Ziegeldach zeugten von der schwefelhaltigen Luft, die auch im Hals kratzte. Vor den Fenstern waren
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