Urbi et Orbi
Familienangehörigen sie besuchen durften und dass sie über die Erscheinungen Stillschweigen bewahren müsse.«
»Aber sie war doch dabei, als Johannes Paul das Geheimnis im Jahr 2000 veröffentlichte«, entgegnete Michener. »Sie saß mit auf dem Podium, als der Text in Fatima für alle Welt vorgelesen wurde.«
»Damals war sie schon über neunzig. Man hat mir erzählt, dass sie schlecht hörte und auch nicht mehr gut sah. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass man ihr verboten hatte, über die Erscheinungen zu sprechen. Sie hat keinen Kommentar abgegeben. Gar nichts dazu gesagt.«
Michener trank noch einen Schluck Bier. »Finden Sie das Verhalten des Vatikans denn wirklich problematisch? War e s n icht vernünftig, dass man Lucia vor den ganzen Irren beschützte, die sie mit Fragen löchern wollten?«
Tibor verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Sie sind ein Gewächs der Kurie.«
Michener nahm diesen Vorwurf übel, weil er ganz und gar nicht stimmte. »Mein Papst ist kein Freund der Kurie.«
»Der Vatikan verlangt absoluten Gehorsam. Andernfalls droht die Exkommunikation. Wir müssen tun, was man uns aufträgt. Schwester Lucia war eine treue Dienerin. Sie hat getan, was man ihr auftrug. Glauben Sie mir, Rom wollte um jeden Preis verhindern, dass sie der Weltpresse Rede und Antwort stand. Johannes hat ihr befohlen zu schweigen, weil ihm keine andere Wahl blieb, und seine Nachfolger haben es ihm nachgetan, weil auch sie keine Wahl hatten.«
»Meines Wissens haben sowohl Paul VI. als auch Johannes Paul II. sie besucht. Johannes Paul hat sie sogar vor der Veröffentlichung des dritten Geheimnisses konsultiert. Ich habe mit Bischöfen und Kardinälen gesprochen, die an dem Vorgang beteiligt waren. Sie hat die Niederschrift als ihre eigene bestätigt.«
»Welche Niederschrift?«, fragte Tibor.
Sonderbare Frage.
»Wollen Sie etwa behaupten, dass die Kirche bei dieser Marienbotschaft gelogen hat?«, fragte Katerina.
Tibor griff nach seinem Glas. »Das werden wir niemals erfahren. Die gute Nonne, Johannes XXIII. und Johannes Paul II. weilen schon lange nicht mehr unter uns. Außer mir ist keiner mehr am Leben. «
Michener beschloss, das Thema zu wechseln. »Dann erzählen Sie uns, was Sie wissen. Was geschah, nachdem Johannes XXIII. das Geheimnis gelesen hatte?«
Tibor lehnte sich in dem wackligen Eichenholzstuhl zurüc k u nd schien interessiert über die Frage nachzudenken. Schließlich antwortete der alte Priester: »Einverstanden. Ich werde Ihnen erzählen, was geschehen ist.«
» Können Sie Portugiesisch? « , fragte Monsignore Capovilla.
Tibor blickte von seinem Platz auf. Er arbeitete jetzt seit zehn Monaten im Vatikan, doch bisher hatte noch niemand aus dem dritten Stock des apostolischen Palasts das Wort an ihn gerichtet. Und schon gar nicht der Privatsekretär Johannes ’ XXIII.
» Ja, Eminenz. «
» Der Heilige Vater braucht Ihre Hilfe. Würden Sie bitte Stift und Schreibblock mitnehmen und mich begleiten? «
Er folgte dem Monsignore zum Lift und fuhr schweigend mit ihm in den dritten Stock hinauf, wo man ihn in die Wohnräume des Papstes führte. Johannes XXIII. saß hinter einem Schreibtisch. Vor ihm stand eine kleine Holzschatulle, deren erbrochenes Wachssiegel auf dem Deckel lag. Der Papst hielt zwei beschriebene Blätter in der Hand.
» Hochwürden, können Sie das hier lesen? « , fragte Johannes.
Tibor nahm die zwei Blätter entgegen und überflog das Geschriebene, ohne es in sich aufzunehmen. Er wollte nur prüfen, ob er die Sprache verstand. » Ja, Heiliger Vater. «
Ein Lächeln trat in das rundliche Gesicht seines Gegenübers. Genau dieses Lächeln hatte die Katholiken der ganzen Welt begeistert. › Il Papa Buono ‹ – der gute Papst – nannten die Medien ihn, eine Bezeichnung, die der Papst sich gerne gefallen ließ. Während der langen, schweren Krankheit von Pius XII. waren die Fenster des päpstlichen Palasts dunkel verhängt gewesen. In symbolischer Trauer hatte man die Vorhänge zugezogen. Jetzt aber waren alle Läden weit geöffnet , und die italienische Sonne flutete herein, als Zeichen für alle, die den Petersplatz betraten, dass der ehemalige Kardinal von Venedig eine neue Lebendigkeit anstrebte.
» Würden Sie sich bitte hier ans Fenster setzen und eine italienische Übersetzung anfertigen « , bat Johannes. » Schreiben Sie sie bitte genau wie das Original auf zwei getrennte Seiten. «
Tibor brachte fast
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