Urbi et Orbi
eine Stunde mit der Übersetzung und ihrer Überarbeitung zu. Das Original war von einer unverkennbar weiblich wirkenden Hand in einem altmodischen Portugiesisch verfasst, das um die Zeit der Jahrhundertwende gesprochen worden war. Wie Völker und Kulturen, so waren auch Sprachen einem Wandel unterworfen, doch Tibor hatte eine gründliche Ausbildung genossen, und so war die Aufgabe relativ einfach für ihn.
Johannes schenkte ihm unterdessen wenig Aufmerksamkeit und plauderte leise mit seinem Sekretär. Als Tibor fertig war, reichte er dem Papst die Übersetzung. Er beobachtete Johannes ’ Reaktion bei der Lektüre der ersten Seite. Nichts. Dann las der Papst die zweite Seite. Es folgte ein Moment der Stille.
» Das betrifft nicht meine Papstzeit « , erklärte Johannes leise.
In Anbetracht des Textes empfand Tibor diese Äußerung als merkwürdig, doch er sagte nichts. Dann faltete er jede Übersetzung mit ihrem Original zusammen, so dass zwei getrennte Papierpäckchen entstanden. Kurze Zeit saß der Papst schweigend da, und Tibor rührte sich nicht. Dieser Papst, der erst seit neun Monaten auf dem Stuhl Petri saß, hatte schon jetzt einen tiefen Wandel in der katholischen Welt bewirkt. Tibor war unter anderem deshalb nach Rom gekommen, um bei den Veränderungen mitzuwirken. Die Welt war bereit fü r e twas Neues, und wie es schien, hatte Gott die Möglichkeit dafür geschaffen.
Also führte Johannes die Fingerspitzen seiner zusammengelegten Hand an die Lippen und wiegte den Oberkörper vor und zurück. » Hochwürden, bitte geben Sie mir und Gott Ihr Wort, das, was Sie gerade gelesen haben, niemals zu enthüllen. «
Tibor verstand, wie wichtig diese Bitte war. » Ich gebe Ihnen mein Wort, Heiliger Vater. «
Johannes sah ihn mit seinen entzündeten Augen durchdringend an. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, und er kämpfte gegen das Bedürfnis an aufzuspringen.
Der Papst schien seine Gedanken zu lesen.
» Seien Sie versichert « , flüsterte Johannes kaum hörbar , » dass ich den Wünschen der Jungfrau nach Kräften entsprechen werde. «
» Ich habe nie wieder mit Johannes XXIII. gesprochen«, erzählte Tibor.
»Und es hat Sie auch kein anderer Papst kontaktiert?«
Tibor schüttelte den Kopf. »Keiner, bis heute. Ich habe Johannes mein Wort gegeben und es gehalten. Bis vor drei Monaten.«
»Was haben Sie dem Papst geschickt?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Nicht im Einzelnen.«
»Vielleicht möchte Clemens nicht, dass Sie es wissen.«
»Dann hätte er mich nicht zu Ihnen geschickt.«
Tibor deutete auf Katerina. »Möchte er auch, dass sie Bescheid weiß?«
»Ich möchte es«, erklärte Michener.
Tibor betrachtete ihn mit strenger Miene. »Leider kann ic h I hre Frage nicht beantworten, Monsignore. Von dieser Botschaft wissen nur Clemens und ich, und so soll es bleiben.«
»Sie sagten eben, Johannes XXIII. hätte nie wieder mit Ihnen gesprochen. Haben Sie versucht, sich Ihrerseits an ihn zu wenden?«, fragte Michener.
Tibor schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Tage später berief Johannes das Zweite Vatikanische Konzil ein. Ich erinnere mich gut an diese Ankündigung. Sie kam mir wie eine Antwort vor. «
»Möchten Sie das näher erläutern?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«
Michener trank sein Bier aus und hätte gerne noch eines bestellt, nahm sich aber zusammen. Er betrachtete einige der Gäste und fragte sich, ob sie sich wohl für dieses Gespräch interessierten, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder . » Und was war, als Johannes Paul II. das dritte Geheimnis enthüllte?«
Tibors Miene verhärtete sich. »Was soll da gewesen sein?«
Michener hatte es allmählich satt, dem Mann die Würmer aus der Nase zu ziehen. »Die Welt kennt inzwischen die Worte der Jungfrau.«
»Man weiß, dass die Kirche es mit der Wahrheit manchmal auf ihre eigene Weise hält.«
»Wollen Sie etwa sagen, dass der Heilige Vater die Welt belogen hat?«
Tibor antwortete nicht sofort. »Ich weiß es nicht. Die Jungfrau ist wieder und wieder auf Erden erschienen. Man sollte meinen, dass wir die Botschaft allmählich kapiert haben.«
»Welche Botschaft? Ich habe die vergangenen zwei Monate jede Marienerscheinung, die in den letzten zweitausend Jahren aufgezeichnet wurde, studiert. Jede scheint eine einzigartige Erfahrung darzustellen. «
»Dann haben Sie nicht genau genug hingeschaut«, erwiderte Tibor. »Auch ich habe die Erscheinungen jahrelang studiert. In jeder ist die
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