Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Kuhn. Er sah gut aus, hatte immer sein Kampfgewicht und das leicht abschätzige, beschnauzte Gesicht. Nach viel Wein kriegte er den rednerischen Kehrreim, der nicht zu bremsen war und einen leicht philosophischen Drall hatte. Ich hatte bei meinem letzten Bernbesuch vor, ihn aufzusuchen, und verpaßte ihn. Er war lange krank, hatte nurmehr einen Viertel Lungenflügel. Unsere Beziehung fußte oder gründete auf einer bedingungslosen Verläßlichkeit. Er habe keine Abdankung, keine Todesanzeigen haben wollen, Kremation und die Asche in die Aare, habe er verfügt, sagte Willi Ebinger am Telefon, er sei einige Wochen im Spital gewesen und (ohne Todeskampf) eingeschlafen. Erinnere mich, wie er von seinem Schlaganfall sprach. Er hatte sich hingelegt und merkte beim Aufstehen, daß er halbseitig gelähmt war und nicht mehr sprechen konnte, was seine Angehörigen und auf ihn wartenden Freunde im Nebenzimmer für Spaß hielten, bis sie aufschreckten und den Notdienst anriefen. Er kam gleich in die Behandlung und konnte gerettet werden, wenn das Wiedergewinnen der Sprache auch seine Zeit benötigte. Er erzählte, daß er keine Angst hatte, wenn er durchs Spitalfenster auf eine Baustelle schaute und die Arbeiten verfolgte, die er problemlos begriff, nur daß er sich keinen Reim darauf machen konnte, er konnte sich nicht ausdrücken. Ich glaube, er wurde verhältnismäßig früh, ich schätze nach sechzig, von schweren Krankheiten befallen, Schlaganfällen, Lungenkrebs, Operationen und Krankenhausaufenthalte. Er lebte mit Ausnahme einiger Motorradfahrten, die eher Ausbrüchen denn Reisen geglichen haben müssen, sehr regelmäßig und vor allem ansässig, arbeitsam auch, mit der obligaten Einkehr ins Wirtshaus vor dem Abendessen. Bei Festen war er unbezähmbar. Er gehörte wohl zu meinem engsten Kreis. Er war mein Jahrgänger, und nun ist er weg.
17. Februar 2009, Paris
Maria. War sie nicht ein Irrlicht? Ich liebte ihre Stimme mit dem ganz leisen leichten Glockenton. Nach der ersten Begegnung, und schon löste sie sich in Erinnerung auf, hatte ich sie wirklich in den Armen gehalten, die lange Nacht? Ich rief an, um ihre Stimme zu hören. Die meiste Zeit war sie nicht da. Manchmal kreuzte ich sie auf der Straße. Einmal zusammen ins Kino gegangen. Ich zitterte nach ihr. Sie war mir versprochen. Wir hatten die kleinen Bilder aus dem Fotoautomaten getauscht. Sie sollte wohl nur vor mir her fliegen wie ein Falter. Die Erregung des Falters. Falterflügelschlag. Sie durfte wohl nicht irdisch werden. Ich wollte nur ihr Bildchen aus der Brieftasche hervorziehen können. Wir sind einmal essen gegangen, wir zwei einander gegenüber gesessen. Ich bewunderte ihre Hände, wie sie mit Gabel und Messer umgingen. Den Schmelz ihres Gesichts. Sie anstaunen. Sie soll mich bei meinem Namen nennen. Ich trete aus ihrem Munde.
Sie hat wohl nie richtig Gestalt angenommen, was war das Verbot? Ich habe sie weit weg geschoben und litt unter dem Entbehren. Warum konnte ich sie nicht in mein Leben hineinholen?
Haben Sie schon damals mit dem Gedanken gespielt, sie verschwinden zu lassen, fragte der Beamte.
Verschwinden lassen? Im Gegenteil. Ich konnte sie leider nie wieder erreichen. Sie ist mir entwischt.
10. März 2009, Paris
Warum die fernen Geliebten, die unberührbar bleiben (sollen) und mich leiden machen? Sollen sie bloß Leuchtfeuer an einem fernen Horizont bleiben, Hoffnungsfeuer und Gegenstand des Wünschens? Ich kann sie Sirenen nennen. Sie senden betörenden Glanz aus und das tiefste Liebesversprechen, die Schönheit, das Schönste. Man muß sich an den Mast binden, um der Verlockung nicht zu erliegen. Weil die Hingabe an die Verlockung gleichbedeutend wäre mit der Zerstörung des Traums. Ich muß meinen Traum immer von neuem zusammenflicken, um fliegen zu können. Doch manchmal segle ich in meinem Traum wie der Wal … War Maria eine Sirene? Sie war ein Sternchen (Starlet) an meinem römischen Himmel. Sie war ganz Huld. Als ich ihr gestand, daß ich verheiratet und Vater von zwei Kindern bin, wurde ihr Traum zunichte. Es war der Traum von der Erlösung durch die Liebe, den Prince charmant. Hätte Odile auch eine Sirene bleiben sollen? Der Sirenengesang. Der einen in die Tiefe reißt. Ins Verderben. In die Illusion?
Rittersporn, Pius Eusebius Amadeus, so der Name, behauptet der Kerl bei der großen Hure. Eben erst in Messina an Land gegangen, aus Kalabrien übergesetzt, es ist Sonntag und der Krieg eben erst vorüber und die
Weitere Kostenlose Bücher