Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
gefesselt bin, zum andern auf schier unerklärliche Art immer deprimierter werde. Wie denn das? Es ist, und das ist weit hergeholt und wohl ungerecht, wie wenn mich dieser heilige Streit, Canettis hohes Amt, wie ein mir zudiktierter Weltkrieg auslaugte, es ist so nichts zum Wohnen, sowenig Lebenszufuhr vorhanden. Es ist, wie wenn das Leben nurmehr aus Geboten, fürchterlich strengen Anforderungen bestehe, fast etwas Vereinnahmendes wie von einer Sekte – dies im Gegensatz zu einem Sartre z. B., wie ich mir vorstelle, wo bei allem Engagement doch viel Luft übrigbleibt für Lebensgenuß oder Lebensverführung (auch ein Joyce verbreitet viel mehr Vergnügen am Leben), die Canettische Ausschließlichkeit hat etwas in meinen Augen geradezu Jesuitisches, ich meine Unmenschliches, wiewohl ich ja von der Person, allerdings der reifen bis alten Person, sehr wohl weiß, daß überbordende Diesseitsfreudigkeit vorhanden war. Ist es das Zerebrale? etwas fast Fanatisches. Ich fühle mich beim Lesen eingesperrt in eine Art ungewolltes Zölibat (Ordensregeln?), Enthaltsamkeit – Fanatismus? bis an die Grenze des Wahnsinns? Nun, vielleicht hat das Klima der Depression mit anderem zu tun, und Canetti ist einfach keine Hilfe dagegen. Nun, der Selbstverbrennungswahnsinn in der Blendung ist ja nicht aus der Luft gegriffen.
19. April 2009, Paris
Was nun Canetti angeht, so macht ihn die lange Londoner Zeit (bevor ich ihn kannte und an der Thurlow Road jeweilen besuchte) viel menschlicher. Die Gottesstreiterei – die Stücke und Blendung sind schier unverdaulich tendenziös, finde ich heute.
In London ist er mit zunehmendem Erfolg nicht nur zu einem teuflischen Faun avanciert, der mehrere Frauen, junge, schöne und überdies Schriftstellerinnen, Schülerinnen, Adeptinnen hatte, einen kleinen Harem hatte und beschlief, und zwar mit Vezas Zustimmung, die zur Sachwalterin und Schutzmacht des Genies mutierte, getrennte Wohnungen, Kuppeleien, unermüdliche Pilotierung …; übrigens ist Veza in ihren Briefen an den Bruder Georges in Paris eine kecke witzige scharfzüngige happige Person … und Autorin nun, Canetti ist eine bedeutende Persönlichkeit im englischen Kulturleben geworden, die außer den Emigrantenkreisen auch imposante Freunde und Gönner bis in die höchsten Adelskreise um sich scharte. Doch ist im Zentrum das Ringen um das Werk, von dessen Bedeutung und Rang er in jedem Status nascendi eine missionarische Überzeugung besaß. Er ist ein großer Menschenerklärer und Menschenskalpierer, dies im psychologischen Sinne. Nachts die geistige Arbeit, tagsüber das bunte und aufwendige Gesellschaftsleben, von dem Party im Blitz berichtet und von dem die Biographie kündet. Es ist der Aufstieg zur Weltgeltung und an die Macht, wenn man will. Ich habe ihn ja, wenn auch später, in den endenden sechziger Jahren in London erlebt, wußte nicht, daß er bereits ein Potentat war. Er ist hin und her gerissen zwischen Weltgewissen und geistigem Potentatentum, auch Ruhmessucht und Frauensucht, Lebenslust; eine merkwürdige Mischung, auch aus Orientalismen, Judentum, Wienereien, auch Paris spielt, als kurzer Wohnort in seiner Vita und letzte Adresse der Mutter, um von den zwei Brüdern abzusehen, eine Rolle, wie auch Berlin, kurzum Internationalismus im besten Sinne. Er war in der Jugend herumgekommen und vor allem in Berlin, wo er als Brotarbeit aus dem Englischen übersetzte und Grosz, Brecht etc. kannte, leicht sozialistisch angehaucht.
Ich lese in der Biographie mit mehr als nur Neugierde, nämlich Betroffenheit, er ist ja eine der ganz wenigen geistigen Instanzen meines Lebens.
Canettis Menschensicht war lange absolut diabolisch. Sie wurde in der Provinz des Menschen , den Stimmen von Marrakesch , den Essays (Hiroshima) komplexhumaner durch Haßabbau und Verehrung.
Die neuerliche Canetti-Rezeption und -Überprüfung hat vermutlich damit zu tun, daß mein heutiges Alter seinem Ruhmesalter entspricht – und ich bin weiß Gott weit entfernt von Sieg. Manchmal möchte ich meinen, ich habe versagt.
23. April 2009, Paris
Canetti-Biographie beendet. Bin sehr beeindruckt. Am meisten wohl durch die bis zuletzt und eigentlich vermehrt bekundete unzerstörbare Liebe zu Veza und Hera, eine Liebesanwesenheit. Irgendwann habe ich vermerkt, Canettis Werk verwundere nicht nur durch die Disparatheit der Werkgattungen, ein Roman, drei Stücke, Aufzeichnungen, Essays, Aphorismen etc., sondern dadurch daß das Wichtigste anvisiert und
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