Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
knospenden Eichel und die faltigen Vaginas und Fotzen. Es ist aber nichts von Karikatur im Spiel, nichts von Verhöhnung, nichts von Demaskierung, nur die nackte Wahrheit in der leiblichen Hinfälligkeit oder wulstigen Dickleibigkeit, aber warum nur? Angesichts dieser Aktdarstellungen denkt man, daß die Aktmalerei der ganzen Kunstgeschichte Idealmalerei ist oder Reizmalerei, Verführung und Feier der Schönheit, vor allem aber, daß der alte verbrauchte Körper einfach nie Gegenstand der Kunst gewesen ist, es sei denn bei einem George Grosz, doch da ging es um Sozialkritik im Hurenmilieu, um Denunziation. Der verbrauchte Körper wird nicht ausgestellt, vielleicht bei den Nudisten, wenn auch nicht als Aktmodell, oder im KZ vor dem Gas.
Ostersamstag 2010, Paris
Zu meiner überhohen Einschätzung des Dichterberufs und der dementsprechenden heftigen Verachtung der Vulgarisierung sprachreimerischer Tätigkeiten wie Rap und Slam fällt mir ein: daß ich das Dichten als Privileg einer Elite zu betrachten erzogen worden bin. Gehörten denn nicht die großen Dichter der Klassik und Romantik und der europäischen Moderne den noblen oder doch bildungsbürgerlichen Kreisen der herrschenden besitzenden Klasse an? Es ist meine Erziehung, es ist mein Herkommen, es ist mein Klassenbewußtsein, das mir dieses Elitedenken eingibt, nun, auch meine Generation. Nur nicht der Sturm auf die Bastille solcher Vorrechte. Hier meine Beschränkung. Überheblichkeit.
9. April 2010, Paris
Beim Überlesen der Journale aus den Jahren 2000 ff. sehe ich, daß die Forelle auch lange bei den ersten 15 Seiten stagnierte und erst richtig losging, als ich die fiktive Erzählperson, nämlich den Stolperer Frank Stolp, reden, sich deklarieren, deklamieren ließ. Das muß ich beim Nagel auch probieren, um ihn aus der anfänglichen Stagnation oder Verkeilung loszukriegen. Der Ton ist ja gegeben, ein Rechtfertigungston wie unter Verhör.
Die Selbstverfesselung ist meine Not, aber auch mein Reichtum, vor allem Garant für Authentizität. Glaubwürdigkeit. Existenzialität. Das Leben schreiben ist die generelle Aussicht, es ist zunächst mein Leben. Wenn die künstlerische Bewältigung gelingt, wenn die Sprachwerdung zustande kommt, wird es Menschenwelt. Weil von mir abgelöst.
Ich frage mich, was es mit dem Ton im Nagel auf sich hat. Ich nannte ihn auch schon kaltschnäuzig oder unverfroren. Es soll nicht gegrübelt werden. Man weiß nichts Näheres, darum hält man sich nicht grübelnderweise in einzelnem auf. Weiter weiter. Bis man zu den Untiefen gelangt. Dann wird es schwierig. Der Nagel im Kopf hängt mit dem Wissen um die Konzentrationslager zusammen. Mit dieser seit Auschwitz in jedermanns Kopf schwärender oder hämmernder Gefahr der Entmenschung bzw. Entpersonalisierungsmöglichkeit. Du gehörst einfach zu einer Zielgruppe der Vernichtung, du wirst aus der Staatszugehörigkeit und aus allen Rechten gestoßen über Nacht, darfst keinen Beruf mehr ausüben, nicht mit der Straßenbahn fahren, nicht auf den Bänken im Park sitzen, nicht ins Kino, nicht in die Öffentlichkeit, du gehörst ins Lager. Und wenn du zu den paar überlebenden Hungerskeletten gehörst, kannst du die Lagererfahrung nicht loswerden, sie steckt wie ein Nagel im Kopf, du kannst sie auch nicht durch Mitteilung loswerden, weil es niemand glauben kann, es gab ja nichts Vergleichbares in der Geschichte der Menschheit, und weil man es nicht glauben kann, weiß es auch niemand, nur du. Du bleibst mit dem Wissen allein, es steckt wie ein Nagel in deinem Kopf.
26. April 2010, Paris
Fällt mir eben ein, und zwar im Zusammenhang mit der nicht nur in den Gesprächsaufzeichnungen mit Jocks immer wieder auftauchenden Frage nach der Affinität mit der informellen Kunst, also der »Gleichung« zwischen Action Painting und Action Writing, daß diese im Jahr der Liebe in der Passage mit dem Bleigießen akkurat formuliert wird, wenn ich beschreibe: Es ist wie Bleigießen, ich gieße mich in kleinen Figuren in die Leere meines Tags, im Schachtelzimmer, in diesem riesengroß um mich gehäuften Paris … Und vorher heißt es: Ich werfe es aus, es erstarrt zischend in der Lauge der Sprache. Ich schaue es mir an.
Gemeint ist dieses unmittelbare, schon fast blinde, jedoch magma-lavahafte Auswerfen, physisch eruptive Materialisieren von inneren Zuständen und Vorgängen auf die Leinwand oder aufs weiße Blatt, unreflektiert. Es ist nicht nur Form-, es ist geradezu
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