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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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oder Punkt Null stellt er künstlerisch, artefaktisch in Puzzle-Techniken oder in Analogien zum Kreuzworträtsel das Haus, die Bewohner, das Leben als Gebrauchsanweisung, die Archetypen der Familie, die Geschichtspartikel oder -spuren der versprengten Passanten oder Hausinsassen her, es ist Rekonstruktion, es ist Einladung hinein in die Lebensprozession, das Grundmuster ist das Versprengt- und Verlorensein, das Vorläufigsein, die fragile Gastsituation. Er verbannt die eigene Not aus seinen Spielen mit formalen und sprachlichen Techniken, er geht vom Machen aus, wobei die eigene Befindlichkeit dennoch aus den Zeilen als Verschwiegenes herausspringt. Ich gehe ganz und gar vom Ich und der Ich-Erfindung aus, um zur Fiktion zu gelangen, das Gemeinsame ist neben dem Hintergrund der Sprachakt, der hochkünstlerische Umgang mit dem Sprachmaterial, verschieden sind die Temperamente, er ist ein Wörterbüchler, Spurendetektiv, Jongleur und Akrobat, ich bin Selbstarchäologe und blutendes Versuchskaninchen.

    20. November 2000, Paris
     
    Schrecklicher Traum. Ich befand mich am Eingang eines mysteriösen Areals, Lagerareals oder Gefängnisareals oder militärischen Areals. Man konnte nicht wissen, was sich hinter dem bewachten Eingang tat, die Stimmung war furchteinflößend gerade der Geheimhaltung wegen. Ich war da mit meinem Schwager Luciano, wir waren lustiger oder verwegener Laune, darum erkühnte Luciano sich auch, einem jungen Motorradfahrer, der eben herangefahren war und ihn beinahe gestreift hätte, auf die Schulter zu tippen oder auf die Brust zu hauen. Worauf dieser ihn packte und den Wachtposten übergab, die ihn gleich wegschleiften. Ich schaute dem Geschehen milde belustigt zu und gab mir erst hinterher Rechenschaft darüber, daß ich hätte einschreiten müssen oder daß es mehr als nur nachlässig war, meinen Verwandten so leichtsinnig seinem Schicksal zu überlassen. Ich trieb mich herum und schließlich näherte ich mich den Wachtposten mit dem Begehr, etwas über meinen Schwager zu erfahren oder ihn sehen zu dürfen. Und so befand ich mich denn auf einmal in dem trüben, aber angsteinflößenden Hof mit den Baracken, zwischen welchen Militär zirkulierte, und auf einmal war ich auch in einer der Baracken und sah Luciano zusammengekrümmt (geradezu) in Embryohaltung auf einem Sack liegen, mir kam er entmenscht vor. Irgendwie gelang es offenbar – doch das ist nicht ganz klar –, ihn wegzubringen, jedenfalls trieben wir dem Ausgang zu, doch da ging mir auf, daß ich im Hemd war und meine schöne Jacke hatte liegen lassen, es war die Jacke des hellen gestreiften Anzugs von Lucien Foncel, den ich immer »meinen Tschechow« genannt hatte, die wollte ich mir wieder verschaffen, und nun war ich gefangen, wie mir aufging, ich begriff, daß es so gut wie ausgeschlossen war, dieser Häftlingswelt, die nach autonomen Regeln funktionierte und nur Opfer oder Schergen kannte, zu entkommen, ich war im Räderwerk einer teuflischen Maschinerie und irrte umher, um eine Person oder Instanz ausfindig zu machen, der ich meinen Fall, der ein Irrtum war, erklären könnte. Ich sah auch eine ausnehmend hübsche, ansprechbar wirkende Frauensperson, wenn auch in Uniform, doch noch ehe ich mich an sie wandte, wurde mir zugeraunt, daß sie eine berühmte blutgierige Sadistin und Massenmörderin, eine wahre Henkerin sei, ich nahm erschrocken Abstand. Sah eine Art Delegation des Wegs kommen, vermutete Politiker, umrahmt von hochgestellten gestiefelten Kommandanten, näherte mich ihnen, wobei mir die Lächerlichkeit meines Vorhabens klar wurde, ist nicht jeder Gefangene seiner eigenen Meinung nach zu Unrecht inhaftiert, also unschuldig? Luciano war nun offenbar draußen und ich gefangen. Ich weiß nicht mehr, wie ich hinausgelangte, möglich, daß einer der Besichtiger mich kannte, jedenfalls kam ich hinaus. Draußen kannte ich mich nicht richtig aus, ich war in einer mir unbekannten Stadt mit Trambahnen und vielen irrenden Menschen, trüb wars, mir schien, ich ging im Nebel, und auf einmal durchzuckte mich die Erkenntnis, daß ich beschattet wurde, verfolgt, vermutlich gleich verhaftet werden würde. Was mir mit Schrecken durch den Kopf ging, war der Gedanke, daß ich zwar irgendwie jenseits des Tors und der Mauern, aber deswegen noch lange nicht gerettet und in Freiheit, daß ich nach einem teuflischen, mir nicht ganz durchschaubaren Gesetz in Wirklichkeit drinnen (geblieben), also zum Tode, wenn nicht zu Schlimmerem verurteilt, daß

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