Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
innere erträumte Zugehörigkeit und vielleicht Heimat, wobei ich »Heimat« nur in den Aufschwüngen der Seele, solchen Vorwegnahmen, als Utopie oder Sehnsucht oder besser Imagination, als das Eigenste erfuhr. Und all mein Trachten und Bestreben ging dahin, dieses Eigenste zu schüren und zu schützen und zu erzeugen. Zu erfinden. Dazu brauchte ich das Abseits und die Stille, und Gruppenzwang, etwa in der Schule, war darum verhaßt, weil es dieses innerste Streben, was ich auch die Selbstzusammensetzung nennen kann, verhinderte und brutal störte. Selbstzusammensetzung hieß später Prädisposition zum Dichten. Und zu diesem Zustand gehörte eine Art Verliebtsein, der höhere Zustand, ein Entbrennen.
Ich kann mein diesbezügliches zweites Leben, die Innlichkeit, mit niemandem teilen, ich suche nicht die Gemeinschaft, ich suche ab und zu die Gesellschaft und Freundschaft wie einen Marschhalt oder wie Verproviantierung; oder etwas wie Liebesgaben in den Hurenbars. Ich war und bin ein sich überlassenes Kind, Wildling, Verlorener Sohn. Das dachte ich an diesem heutigen Weihnachtssonntag auf dem ausgiebigen Spaziergang durch die Rive gauche und Saint-Sulpice zum oberen Boulevard Saint-Michel und weiter zu Saint-Julien-le-Pauvre und dem Blumenmarkt mit den Weihnachtsbäumen hinter Notre-Dame. Danach über den Pont de Notre-Dame vom Quai de la Corse kommend zum Châtelet und von da im Météor zu Pyramides und nach Hause. Von der Stadt mehr als entzückt, nirgends wie in Paris geht man durch diese tief bebende Menschenstadtlandschaft, Steinunendlichkeit, Menschengefilde voller Ernst und Entzücken. Und wie das Menschentreiben in all den unvergleichlichen steinernen Kammern und Fluchten sich alltäglich mit den zahllosen Geschäften Märkten Ständen Restaurants Bars Höhlen zum Geschäft des Lebens rüstet und das Handwerk des Lebens vorführt aufs bunteste, menschlichste und dies über dem Brausen der allgegenwärtigen Geschichtlichkeit, dachte ich.
Zweimal im Kino gewesen, The Barber der Gebrüder Coen und Mulholland Drive von David Lynch, eindrücklich, gehörte zu meiner diesjährigen alleinigen Weihnachtsverbringung. Igor und Odile in Rennes. Übermorgen mit Igor nach Zürich zu Valérie; und heute abend mit Derivière bei Malika. Ich mag das Alleinsein an hohen Feiertagen, immer schon. Einmal Silvester an der Delphinstraße in Zürich durchgearbeitet, auch im Atelier Stockerstraße Weihnachten gearbeitet, während nebenan die portugiesischen Fremdarbeiter tafelten.
2002
9. Januar 2002, Paris
Bin ich das? denkt der Clochard in Hund beim Blick in das Spiegelbild der Vitrinen. Denkt der in der Tantenwohnung Eingetretene in der Forelle , und zwar nicht nur beim Blick in den hohen Spiegel überm Cheminée, sondern angesichts seiner grundlosen Selbstauflösung, Ankommensfurcht, seines Entsetzens, ihn schaudert wie einen, der in eine Zelle eingeliefert wird, entsetzlich, nicht nur der Boden wird ihm unter den Füßen weggezogen, sondern die Welt, es ist der Selbstverlust, die Auflösung, nur nicht denken, Freund, nur laufen. Und ich lief hinaus auf der Suche nach der Forelle, wie aber kann man dieses glitschige, fischige Wesen fangen und packen? und was ist es, wer ist die Forelle, die man in ein Fell packen möchte?
Ich schritt durch den Spiegel, hatte ich nicht dieses Bild gebraucht in meiner ersten Zeit in der Tantenwohnung, nach all den gefährlichen, jedoch überstandenen Ängsten, ja, ich erinnere mich, dieses Bild aufgeschrieben zu haben, und zwar als Trophäe, Siegestrophäe, bin durch die Spiegel geschritten, als wäre ich von nun an gefeit. Kein Bild, kein Erkennungsbild mehr, nurmehr in ein Unbekanntes wie in ein Fell oder Urfell gewandet herumzulaufen und vor allem zu schreiben, was schreibt? Im Jahr der Liebe ist es das Buch, das sich schreibt, und von den Caprichos an ist es nurmehr das pochende Herz oder ein Unterbewußtes, eine Stimme, eine Bewegung, Regung, ein in der glitschigen Forelle atmendes Befinden und Glucksen wie der Rinnstein, eile eile. Heißt das Bild, ich bin durch den Spiegel geschritten, soviel wie ich bin mich und alles losgeworden und vielleicht wesentlich geworden, auf Grund angelangt? und allem entlaufen? eile eile.
18. Januar 2002, Paris
Das Schwierige bei meinem Schreiben liegt darin, daß es sich sowohl um ein Lebens- wie Schreibprojekt handelt. Und das Projekt oder besser gesagt die Recherche – und ich lege Wert auf diesen Begriff, der bis in die Dimension
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