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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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man die Zunge hüten und nicht plappern lassen, weiß Gott, wohin das führen kann im Kopfe, wenn man dermaßen entgleist, ich kenne Leute, die mit derlei Unsinn begannen und allmählich ganz und gar verrückt wurden, sie konnten die Zunge nicht mehr im Zaum halten, die Zunge sprudelte immer verrückteren Unsinn, und der Unsinn trug sie fort bis ins Irrenhaus, hüte dich.
    Und nun dachte ich an das Sprudeln und sah gleich die Sprudellöcher vor mir, die die Straßenreiniger morgens mit ihrem Schlüssel aufdrehen, um das Abwasser, das Spülicht – Spülicht? – freizulassen, und ich sah das eilige Gleiten des Wasserbachs im Rinnstein vor mir, eile eile, und wie das eilige Wasser mich ermutigt.
    Ich halte es neuerdings mit dem Wasser, dachte ich, und mit dessen Bewohnern, Wasser wie Denken wie Reden wie Phantasieren wie Reisen, ich lasse mich hintragen.
    Vielleicht geht es beim Fell der Forelle gar nicht um das Einmänteln, nicht um Schutz, sondern um Verhüllung, wenn nicht Ablenkung und Irreführung, um Vertuschung und weniger um eine Nacktheit, sondern um das Rätsel, man soll das Rätsel nicht ans Licht der taghellen Anprangerung bringen.
     
    Kommenden Mittwoch ist mein Geburtstag, wir haben Jean-Baptiste und Colette zu einer Fondue eingeladen, wie früher auch schon, doch das ist nur Tünche, danach werden unsere Leben unabhängig voneinander weitergehen. Der eigentliche Kehraus wird um Weihnachten stattfinden, ich werde allein sein.

    23. Dezember 2001, Paris
     
    Zurück zum Glück. Glückgefühle empfand ich jedesmal, wenn ich, um es etwas gestelzt oder Thomas Mann gleich auszudrücken, Einkehr bei mir hielt, als Junge die Schule schwänzte, um allein sein zu können, was nachdenken, Bildern und Empfindungen nachhängen und mich an etwas heranträumen hieß, im Grunde versuchte ich einfach, mich mit mir zurechtzumachen, das Viele, was in mich eingegangen war, zu verarbeiten, bis ich aus der Zersetzung zu einer Art Versammlung fand und meine Welt erschuf. Erschuf? mich einholte. Und dieser Luxuszustand setzte Glück, Glücksinnesein, frei. Und Welt. Das Denken und Träumen war ein Anlocken von Schollen, Erlebnis- und Erfahrungsschollen, es war insofern auch Vergewisserung von innerem Besitz, und es war mit sprachlichen Vorgängen verbunden, sprachliches Einholen, und das Ganze war sowohl rückwärtsgerichtet wie vorwärts, letzteres als Vorwegnahme von Leben, Abenteuer, Guthaben, auch Liebesguthaben, vor allem Zukunftsahnung. Und aus dem träumenden oder besser nichtstuerischen Zeithaben entschlüpfte die glückliche Selbstvergewisserung als Geburt von Welt und Ich und manchmal der Flug der Seele, Seligkeit.
    Ich hatte solches Entkommen bitter nötig, auch auf den Spaziergängen, die ja immer auch Gedankengänge waren, erreichte ich diesen Zustand des Mit-mir-Zurechtkommens oder Bei-Sinnen-Seins; das Entkommen war Tätigkeit, wenn nicht Arbeit, und setzte Alleinsein voraus oder anders gesagt, Freiheit, Freisein (von Zwängen). Nur nicht andauernd gelebt werden durch Schulzwang und mißliebiges Gruppengequassel, nur nicht das Hordendasein, denn da konnte ich das innere Flämmchen nicht schützen, nicht schüren, nicht am Leben erhalten, darum das tiefe Bedürfnis nach Freiraum. Noch in der ersten Zeit in Paris wie früher in den Pubertätskrisenjahren war mir die Aussicht auf Begegnungen panikauslösend, ich floh in den Wald aus Angst, kein Wort hervorbringen zu können, nicht einmal einen Gruß, ich war ein Versprengter. Ich bin der Einzelgänger par excellence, wenn ich auch gerne nach getaner Arbeit in Gesellschaft bin, allerdings ausgewählter und in kleinstem Kreise, am liebsten mit einem einzigen Freund. Oder allein in einer Bar oder im Kino.

    25. Dezember 2001, Paris
     
    Ich habe nie eine Familienstruktur gekannt, nie Vater mit Mutter intim oder auch nur konspiratorisch oder wie ein Paar erlebt, sondern Großmutter und Mutter als Mutter und gehorsames Kind und Vater abseits als der Fremde, fremde Gast und später als abgeschobenen Kranken auf dem Krankenbett. Und um diesen Kern als Trabanten und Zugvögel Großtante und die Dienstmädchen und Werner der Hausbursche und die wechselnden Pensionäre. Und hinzu kommen die anderen Hausparteien, bei welchen man aus und ein ging, dies alles wie im Haus -Buch insbesondere etwa in »Die Gegend des Waschtags« beschrieben.
    Ich selber erschuf mir mein Revier und auf den einsamen Spaziergängen, Bootsfahrten, Fluchten und geheimen Unterschlüpfen eine andere

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