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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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die Pharisäer im Kleinstformat. Er war auch Leser, auch diesbezüglich ein Süchtling, nur eben das triefende Selbstmitleid. Er lag und rauchte, philosophierte, und manchmal sprach sein aufgerissenes Auge Wahrheit.
    Exhibitionist. Er versprühte das übersüße Parfum der Dekadenz. Wenn ich aus seiner Wohnung trat, war mir nach Kraftproben zumute, nach Körperstählung, Rennen und Brüllen, nach Grobheit. Ich ertrug nicht seine Ironie und Selbstironie, seine Übersensibilität, Feminität, ich konnte die Exhibition seiner Schwäche nicht ertragen, wenn ich auch von seiner Intelligenz nicht unbeeindruckt blieb. Schwäche als Makel. Seine Schwäche schien mich anzuklagen – welcher Schuld? Ich setzte mich zur nachsichtigen, verständnisvollen, trotz Trauer lustigen Frau Neuhaus in die Küche.
    Meine Schwester hingegen … Das bißchen Zugang zu Gérard Neuhaus hatte ich über meine Schwester.
    In dem Haus das kranke Marieli, mein bettlägeriger Vater, Gérard Neuhaus, das Künstlerwrack, die kriminellen Brüder, die immer abwechselnd auf Reisen waren, das heißt ins Gefängnis verschwanden, der Hausarchitekt von Berger Früchte- & Gemüse-Geschäft, nach dem Verziehen der Juweliersgattin und einstigen Hausbesitzerin und Marielimutter neuer Hauseigentümer, die wechselnden Pensionäre usf. Das war der Anschauungsunterricht der Kindheit, alles in allem das Gegenteil von einem aufmunternden Beispiel, von Geborgenheit, Sicherheit, Stabilität, dafür um so mehr Exemplum von Abstieg und Auflösung, Kommen und Gehen, Lotterleben, Vorläufigkeit, aber auch ein interessantes Bestiarium, nicht unähnlich Thomas Wolfes Elternhaus, wo auch eine Pension geführt wurde, andererseits die Sippe dominierte.
    Gérard Neuhaus habe ich wohl nicht oder nur zu gut begreifen können in vorwegnehmenden Ahnungen, die mich geimpft haben. Zusammen mit Emil Rötlisberger, unserem ewigen Pensionär, der mir neben seinen Ticks Lesesucht und Musikverrücktheit und Richard-Wagner-Verehrung und das Lebensbeispiel eines auf ewig verstoßenen und mißratenen Sohnes, aber auch etwas wie krause Bildungsvorstellungen vorgelebt, vor allem anderen aber Robert Walser vermittelt hat, stand Gérard Neuhaus für Kultur und Kunst und deren Gefahren, Feinheit, Sensibilität, Bildung, hochfliegende Träume als Lebensschwäche, Lebensuntauglichkeit, Außenseitertum, Siechenhaus, Scheitern und Untergang.
    Für meine Schwester war dieser »Musiker« wohl ein Treibhaus für Gefühlspflege, Phantasieren, Nur-Empfänglichkeit, Passivität. Für mich bedeutete er: nur nie so werden wie er, also Vita activa, Ertüchtigung, Mobilmachung als Überlebenswille.

    1. April 2002, Ostermontag, Paris
     
    Unterhaltungsliteratur. Was habe ich dagegen? Gegen das Geschichtenerzählen? Ich selber bin ja ein erklärter Liebhaber von Krimis. Solche Lektüre ist letztlich immer Ablenkung, du nimmst den Zug, um dich entführen zu lassen, um gewissermaßen Urlaub zu nehmen. Es ist das Gegenteil von Vergewisserung. Dahingegen Kunst: Sprachkunst: Es ist das Aufbrechen der Lebensintensität in dir, deine eigene Vervielfältigung, Vervielfachung, Zentrierung, ja Auferstehung. Und das Dasein versammelt sich um dein Erwachen in der unerhörtesten, nie gesehenen Bereicherung, du lebst auf, du zerspringst – vor Dichte. Alles ist unerhört, alles wird wertvoll, weil einmalig. Die homerische Versammlung und Selbstversammlung. Nur nicht den Ferienzug in die lässige Entspannung nehmen. Nur nie die gewöhnlichen Augen bekommen, nur sehend und begeistert bleiben.

    16. Juni 2002, Paris
     
    Konrad Aeschbacher schickt die Todesanzeige von Ernst Müller, wir nannten ihn Aeschi, wie wir den Bruder Erich Richu nannten – bernische Wortverdrehungen (Kosenamen wäre zu viel gesagt), mich nannte man Pole. Ich lernte die beiden Brüder, Künstlerbrüder, im WK, Wiederholungskurs, Militärdienst kennen, wir schlossen gleich Freundschaft. Wir waren knapp über zwanzig, was für mich zwischen Abiturient und Student bedeutete, die beiden waren bereits schaffende Künstler. Sie wohnten in Bern in einem großen gehöftartigen Anwesen am Stadtrand, war der Vater nicht Leiter eines Heims? Behindertenheims? Er war Anthroposoph, glaube ich.
    Erich/Richu sah aus wie ein Koreaner, Ernst/Aeschi war eine Art Sonnyboy, aussehens- und wesensmäßig. Mit dem kleineren, drahtigen, eben koreanisch kompakten und physiognomisch unergründlichen Erich verband mich fortan eine enge Freundschaft, wir verkehrten in unseren

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