Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Familien zu Hause, vor allem aber unternahmen wir lange Spaziergänge an der Aare entlang weit über die Elfenau hinaus, wenn nicht bis Belp, es waren ewiglange Gespräche im Gehen, sie zogen sich über Kilometer hin, kilometerlange Gespräche in der Natur; über Kunst, Kunstwollen, über unsere Zeit, über Vorbilder in Kunst und Literatur, übers Leben, über Werte, Anschauungen, über den Menschen. Wir waren, was man engbefreundet nennt, vorübergehend unzertrennlich, Aeschi war höchstens ein Ableger oder Anhängsel unserer Verbindung. Er zog bald einmal nach Erlach, und später zog Erich auch dahin, Erlach war für mich eine Art Künstlerkolonie, es gab noch einige weitere Kunstschaffende dort, einen Martin Ziegelmüller, ich fuhr auch des öftern zu ihnen in das mittelalterliche Städtchen mit dem Schloß, das, glaube ich, eine Jugendstrafanstalt beherbergte. Wir trieben uns am See herum oder wanderten auf den Jolimont, tranken Wein, kehrten ein, diskutierten.
Ernst malte Landschaften, eher traditionell, mit einem leichten Stich ins Märchenhafte oder Naturmythische, Erich war ein moderner Stein- und Holzbildhauer im Groß- bis Riesenformat, eine Zeitlang genoß er den Ruhm eines modernen Pioniers, mit seinen archaischen Formvereinfachungen, seiner monumentalen Urtümlichkeit, dann schlug auch bei ihm etwas Pseudoreligiöses ein, auch etwas allzu Naturmythisches vielleicht, eine Verklärung, Entrückung, vermutlich war es das im Elternhaus aufgenommene Anthroposophische, und in der Wesensart nahm das Eigenbrötlerische bis Eremitische, verbunden mit einer von mir nicht nachvollziehbaren Gläubigkeit, diffusen Weltanschauung zu. Ernst aber wurde ein Großlieferant als Lokalkünstler, er wurde wohlhabend, der materiell erfolgreiche große Bruder. Und Erich/Richu mutierte zu einer Art Waldschrat, wenigstens im Äußeren, die moderne Kunst ging andere Wege, sie vergaß ihn, den einsamen Spintisierer, eigensinnig Abseitigen. Ich verlor ihn aus den Augen. Er muß tot sein, wenigstens figuriert er nicht unter den Leidtragenden, die in der Todesanzeige von Ernst Müller angeführt sind.
Erich war, glaube ich, zweimal verheiratet, zweimal mit deutlich größeren ansehnlichen Frauen, von denen er Kinder hat. Vergangenes oder vorvergangenes Jahr tauchte bei einer Lesung in Bern eine junge Frau auf, die sich als Erichs Tochter zu erkennen gab. Erich verschwand, für mich, in noch jungen Jahren in einem für meine Begriffe verwachsenen, unzugänglichen geistigen oder sektiererischen Dschungelgebiet oder Atoll. Als wir blutjung und unzertrennlich waren, konnte er lustig sein. Er war der erste, der mich auf Laurel und Hardy aufmerksam machte, zu einer Zeit, da ich von Filmkomikern nur Chaplin kannte. Seine jugendliche Ruhmestat als Bildhauer war ein mehrere Meter hohes Nashorn aus Holz, das in einem Buch über moderne Plastik von Carola Giedion-Welcker, der Joyce-Freundin und -Mäzenin, abgebildet ist.
24. Juni 2002, Paris
Ich notiere meine rückhaltlose Bewunderung für Dieter Bachmanns Grimsels Zeit . Ein Entwicklungs-, Heimat-, Familien-, Zeitroman in gleitend immer anderen Perspektiven und Sprachtönen, zart und spröd; die Zeit ist die unmittelbare Nachkriegszeit, und sie ersteht vor dem Leserauge in Dinge-, Warenbeschreibungen, Zeugnissen, Redensarten von einer Erinnerungsexaktheit, daß ich an Perecs Je me souviens denken mußte. Die Zeit dringt durch das Erzählgefälle wie eine Ameisenplage durch Ritzen. Höhepunkte für mich sind die Liebesgeschichte und die Jazzpassage. Ganz toll die eingelegten Bahnhöfe mit den Geleisen zurück in die Herkunftsfernen.
Ich denke Grimsels Zeit war Bachmanns Lebenstraum, und jetzt hat er ihn wahr gemacht. Ich kann nur staunen.
29. Juni 2002, Paris
Mit Colette zweite Sitzung in bezug auf das ROM-Projekt für Pauvert absolviert. Für mich ist es ja eine Art Generalprobe für Salve Maria oder doch ein zimperliches Wiederaufnehmen der schon fast verwachsenen Spuren. Was wir bisher herausgearbeitet haben in den in den paar römischen Tagen aufgenommenen Gesprächen, betrifft den lebenden Vorläufer der Canto -Erzähler-Figur, den einstigen, eben dreißig gewordenen Stipendiaten, der mit Frau und Kindern in Rom eintraf im Februar 1960, in der römischen Regenzeit, entschlossen, das geschenkte Freiheitsjahr nicht nur zu nutzen, sondern zu leben und mehr: es zu seinem heimlichen Geburtsjahr zu ernennen; Neubeginn.
Dazu gehört etwas Vorgeschichte, nämlich ein paar
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