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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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der Expedition oder Entdeckungsreise reicht – gilt der Erkundung des Lebensdunkels und Ich-Dunkels, der Ungewißheit, Unfaßlichkeit beider Größen. Hier die Untersuchung, hier das Berennen der geschlossenen Türen, hier aber auch das zu erschließende und bisweilen erschlossene Neuland im existenziellen oder anthropologischen Sinne, hier die neue Erkenntnis, hier der Erkenntniszuwachs, und wenn von Erkenntnis die Rede sein soll, hier das Loten und Ringen um die menschliche Sinnfrage, hier die neue Menschenkunde.
    Mein Werk ist sowohl ein Erzählwerk wie die Demonstration des Aufblätterns, Durchleuchtens, Durchlotens, Erhellens des Erzählten oder zu Erzählenden, mit andern Worten: künstlerischer VerWIRKlichung oder Aneignung, also auch die dazugehörige Beschreibung der Methode.
    Wie bei meinen künstlerischen Paten van Gogh und Robert Walser steht am Anfang des Unternehmens nicht einfach Begabung, sondern ein Defekt, eine Verunmöglichung sowohl zum Leben wie zum Erzählen, ich nannte den Defekt »meine Not, mein Leiden« von allem Anfang an, hier die tiefste Motivation und Legitimität. Das Klima ist Leidenschaft und Sehnsucht, Passion, das Movens Mut und Erkühnung, Wagnis bis zur Aussichtslosigkeit, koste es, was es wolle, der verschwiegene Hintergrund Lebensliebe oder doch eine Disposition dazu, ich kann auch sagen Hunger. Und die Kraft wäre das Durchhaltevermögen des Soldaten, der den Befehl nicht nur bekommen, sondern angenommen hat.
    Die Verschlingung von Leben und Dichten hat auch damit zu tun, daß das erkundende und verWIRKlichende Dichten bei allem Wagnis des Vorstoßes das Versprechen oder Erhoffen der Rettung mitträgt. Von Freiwilligkeit keine Spur, um so mehr Manisches. Alles Gesagte trifft auf das Wesen der Expedition oder Entdeckungsreise zu.

    28. Januar 2002, Paris
     
    Wenn ich von Cuno Amiet absehe, den ich im Landdienst kennenlernte, also in den Progymnasiumsjahren – das Aufgebot lautete, ich habe mich bei Bauer Gygax in Schnerzenbach bei Ochlenberg zu melden, also sozusagen auf der Oschwand, wo Amiet residierte –, wenn ich von Amiet absehe, dann war Gérard Neuhaus, alias Raoul Liebreich, die prägende, weil erste Künstlergestalt meiner Kindheit. Cuno Amiet war nicht nur erfolgreich, anerkannt, gewissermaßen eine internationale Größe und in Grenzen historische Figur und Persönlichkeit, Neuhaus hingegen war, wie ich wohl witterte, der verkrachte, der mißratene, der gescheiterte Künstler.
    Er hatte es nicht geschafft – was? Ich meine nicht den Erfolg, nicht den Ruhm, er hatte es nicht geschafft, sich zu verwirklichen, ich weiß nicht, war es eine Frage des Talents oder eine Frage der Kraft und der Disziplin, der Zuversicht, der Willensanstrengung, Hartnäckigkeit, des Durchbeißens … oder der Umstände und Zeitläufte? Er hatte aufgegeben, den Traum aufgegeben, er war gebrochen: der gebrochene Künstler. Und insofern für mich und mein damaliges Ahnungsvermögen der Inbegriff des abschreckenden Beispiels. Der erste »Gewesene«. Ein Jammerlappen, Feigling? ein eingebildeter Kranker, auf der Strecke Gebliebener. War er der erste oder besser gesagt die Vorform meiner Absteiger und Clochards, Gestrandeten, Verdammten? Meine Angst war ja immer, die Begabung oder Berufung nicht in Schöpfung umsetzen zu können, den Kampf nicht zu bestehen, meine Angst war die Kapitulation und der Untergang. Das Leerausgehen. Das Versagen.
    Die Verfeinerung, die Überfeinerung, die Wehleidigkeit, Hinfälligkeit, Leidsucht, Sucht überhaupt, zum Beispiel Zigarettensucht.
    Die demonstrative Selbsterniedrigung, die ich als ein Betteln um Mitleid ansah, das Spektakel seiner Tragödie, die parfümierte Theatralik. Die Flucht in das religiöse Spintisieren, Inhalieren, das Rosenmalen. Die Ausbrüche und Zusammenbrüche am Flügel. Die Selbstdarstellung als Gekreuzigter und das davon abgeleitete Recht auf Faulheit, die Ausnutzung, Ausbeutung der Gattin, die mehr als ins Auge springende Kapitulation .
    Er war die verkörperte Schwäche in meinen kindlichen Augen und gleichzeitig die verkörperte Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit, doch aus der Lage des Besiegten und Hingestreckten persiflierte und karikierte er als Stimmenimitator die Tüchtigen, die wackeren kleinen Leute und Lebensrechthaber, die Realisten ohne Lebenstraum, die primitiven Unbeschädigten mit ihrem Eintopf von Meinungen, ihrem Gewäsch, ihrem falschen, weil ekelhaften, unbegründeten Urteilen und Besserwissen, stinkenden Dünkel,

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