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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Bemerkungen zum Dasein als Berner Museumsassistent, der ja in Die gleitenden Plätze vorkommt, hier sein Abklatsch und Abglanz. Und im »Bildnis Karl Buri«. Aber was dort nicht vorkommt, ist das seltene, aber immerhin bemerkenswerte Triebwesen im Gewande des Assistenten, wenn er beim Durchqueren der Museumssäle auf eine aufregende Besucherin stieß und ohne zu zögern ihr nachlief, durchs Portal hinaus ihr hinterherlief, an der Schleppe der Schönen hängend. War es das Wiedererwachen des Frauenhunds, wie er in Stolz beschrieben wird? Das Barbarische in ihm, das mühsam im Zaum Gehaltene? Er konnte eine Besucherin in die Arme reißen, im Grunde nicht weniger als überfallen. Dieses Triebwesen brach sich im römischen Hurenhirten Bahn. Rom ist das Freiwerden des Künstlers im bis anhin bürgerlich lebenden Subjekt. Auch die Verschwendungssucht – in einem Nachtklub einmal ein Monatsgehalt des Museumsbeamten, der er vor kurzem noch gewesen ist, verschleudert. Offenbar geht das Freiwerden und Hervorbrechen des Künstlers mit dem Freiwerden des Barbarischen bis an die Grenze von kriminellen (?) Möglichkeiten einher. Von daher erklärt sich teils die innere Verstörung des römischen Nichtstuers, der im Unterschied zu den anderen Stipendiaten kein Projekt, kein Forschungs-, Schöpfungs-, Schreibthema hat, rein nichts, und statt dessen alle Zeit, Freizeit, die er vertut und verschleudert; das Ergebnis ist das schlechte Gewissen und Angst – zu mißraten, zu verraten, alle in ihn gesetzten Hoffnungen bitter zu enttäuschen? Angst vor dem unbekannten Ich. Verschwenden ist auch einigermaßen identisch mit Sich-Häuten. Verlorenheit, Selbstverlust, Angst. So wenn der Stipendiat spät nachts auf den krummen Straßen ins Institut zurückschlich. Darum die Nähe zu Scipione, bei dessen Figuren auch dieses Sich-Verschleichen.
    Diese Vorgänge in der Kulisse der Ewigen Stadt, vor allem in den Trümmern der Antike und vor den schönsten Glaubensgebäuden des Christentums – in diese gewaltigen Überlebensbeispiele hätte der windig-winzige Stipendiat und Künstleranwärter seine Pfade des lausigen Lotterlebens eingeschrieben. Er hätte ja, nimmt man sein Romjahr als Stufe oder Wegmarke von Lehr- und Wanderjahren, in Rom »in die Schule gehen« können. Und was spielt nun Maria als Immaculata in diesem Zusammenhang für eine Rolle? Immaculata dolorosa virgine. Wer soll unberührt bleiben?
    Was mich in Rom auch von allem Anfang an fasziniert hat: Ich nenne es das Urbane. Ich habe es gleich wiederempfunden, als ich neulich in Rom (zurück) war. In der Straße del Tritone? Citybauten, finsterlich und rund um Piazza Colonna. Banken, Geschäftshäuser, Verwaltungen, die Beamten trugen seinerzeit, wenn ich nicht irre, schwarze Berufsmäntel, im Canto schreibe ich, ich höre durch Mauerritzen Schreibmaschinen, Rechenmaschinen zischen. Das Urbane hat mit der anonymen Existenz der Angestelltenentfremdung zu tun, mit einem spezifischen Schattensklavendasein, in das sich die durch viele Jahrhunderte an Schicksalshinnahme gewöhnten Römer tagsüber schicken. Das wäre nichts Besonderes, das gibt es ja überall, aber in Rom damals, von der Schweiz kommend, empfand ich es wie eine Mutter von amerikanischen Verhältnissen, eigentlich schon fast surrealistisch, Modern Times im Herzen der Antike, das Mit-allen-Wassern-Gewaschensein des alten Kulturmenschen, Mutter des Mafiosendaseins? Jedenfalls hat es mich erregt und erregt mich heute noch. Und dann abends verwandeln sich diese kapitalistischen Gespenster zurück in die physischen Römer mit den ausgedehnten Abendessen (Cena) zu Hause und den streng geregelten Familienhierarchien, verleiblichen sie sich.
    Es hat auch mit den großstädtischen Verkehrsmitteln, Massentransporten zu tun, Stoßzeiten-Verdunkelung. Kafka in Rom. Ich kann es noch nicht wirklich sagen, wie ich auch den Geruch der Metro nicht eigentlich sagen kann, ich nannte ihn einen Mischling oder faulen Atem, doch heute dachte ich, dieser Geruch habe mit Ausdünstungen der Menagerie beim Zirkuszelt zu tun, mit Zirkusluft also, und daran könnte etwas sein, genauso wie ich, aus dem Flughafengebäude Ciampino tretend, die Düfte draußen in der feuchten Hitze mit Raubtierdünstung gleichsetzte, also Afrika.
    Und wäre Maria also meine Eurydike gewesen, die ich opferte, um cantare zu können? Sollte sie eine Verheißung, ein Versprechen bleiben, mein Stern, und sexueller Konsum hätte den Stern auf die Erde und in die

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