Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Schmalverbraucher, Illusionisten, ich kann mir offenbar Zuneigung und Zusammengehen, Zusammensein und Zusammengehörenwollen überhaupt nicht mehr vorstellen, möchte nur Niedrigkeit oder tierische Tumbheit dahinter vermuten und denke mir die künftigen Scherbenhaufen aus. Und hatte es ja auch gehabt, auch gekannt bis zur Verzauberung Hörigkeit Erfüllung, konnte es aber nicht am Leben erhalten, nicht durchhalten. Ich habe in den Ehen, in der Familie, in der Liebe versagt, sogar die Kinder haben sich abgewandt, Kontakt nur noch mit Valérie, nicht aber im Werk. Alles für das Werk geopfert oder verspielt? Die Humanität, auch die Liebe, alles ist ins Werk gegangen. Auch mir war wohl im Leben nicht zu helfen. Das Werk ist gelungen, es war wohl der Antrieb, die Kompensation eines gewaltigen Webfehlers.
Warum nur sagen mir auch heute noch jüngere Gesprächspartner, wenn sie mich besuchen kommen, sie kämen, weil meine Gegenwart für sie ermutigend sei? Weil ich durchzuhalten scheine? Tönt wie Ironie in meinen Ohren.
25. Oktober 2002, Paris
Vor einigen Tagen kam ein irritierender nächtlicher Anruf der Schwester mit der Vermeldung, sie habe eine Art innerlich-schöpferische Explosion erlebt, ihr seien die Augen aufgerissen oder besser entschleiert und ihrem Wesen eine Schläfrigkeitswand entrissen worden, sie fühle sich zu tausendundein Unternehmungen und Projekten erwacht, sie sprach von Designergelüsten, von einem Rundumgepacktsein, kurzum von Aktivitätsanwandlungen der verschiedensten, nicht nur musikalischer Art, sondern wahren Projekten. Und nun hat sie gestern nacht wieder angerufen und erwähnt, sie komme aus einer Mitteilungs- und Einmischungswut gar nicht mehr heraus, sie spreche Leute an, telefoniere in alle Richtungen, nehme alle vergessenen Kontakte auf, sie sei zwar auch beim Arzt und Psychiater gewesen, es könne schon manisch-depressiv sein, das heißt im Moment manisch, eine Manie, sie finde keine Ruhe, keinen Schlaf mehr, sei aber nicht unglücklich, wobei sie die vorangehende und notorische Schläfrigkeit, Müdigkeit als depressiv denunzierte. Sie stehe stundenlang vor dem Spiegel und probiere immer neue Kleiderkombinationen, das Kleiderkaufen sei schon fast eine ausgewachsene schöpferische Sucht, sie brauche etwa zwei Stunden, um sich zurechtzumachen, bevor sie ausgehe. Sprach davon, wie sie in einem Selbstüberschwang irgendwelchen Leuten in Geschäften über den Mund fahre und sie auf ihren Platz verweise mit der Deklaration, sie sei keine blöde Bürgerin/Spießerin, sondern aus der Existenzialistengeneration hervorgegangen, habe als Mädchen in Paris in Kellern Sidney Bechet und Claude Luter erlebt und zu deren Jazz getanzt und alle möglichen inzwischen weltberühmten Künstler gekannt. Sie möchte eine Zusammenkunft der in den fünfziger Jahren in Bern angetretenen Rüdlinger Künstlergeneration planen, habe auch schon einige diesbezüglich angerufen. Selbstbewußtsein übersteigertes und Wahn, die eigene Singularität herauszustellen, eine Selbstigkeit, die in ihr seit immer schlummert und ab und zu geradezu brutal hervorbricht, dann wieder einem übertriebenen Weichsein, Verständigseinwollen weicht. Mich fröstelte am Telefon. Sie betont, sie leide nicht, nur daß die Beruhigungsmittel nicht wirkten. Für mich ist es die schreiende Grimasse von Einsamkeit durch Unverstandensein, ein Schub, dachte ich. Offenbar kann Tamara damit umgehen, sie verhalte sich vernünftig und mit Zartgefühl und sei hilfreich. Sind diese Anrufe Hilferufe an den Bruder? Und ich die letzte Adresse?
27. Oktober 2002, Paris
Diese Nacht hat sie von neuem angerufen, um mir mitzuteilen, daß Unseld gestorben sei, ich brauchte einige Zeit, bis ich die Tragweite dieses Satzes erfaßte. Rief Hörning und danach Elisabeth Borchers an, es hieß, die Abteilungsleiter, die Damen und Herren von der täglichen Postkonferenz, Rainer Weiss, Günter Berg etc., seien in der Klettenbergstraße und hielten Totenwache. Borchers meinte, er habe wohl schon einen Hirnschlag gehabt, niemand sei wirklich ins Bild gesetzt worden, man habe ihn abgeschottet und nach außen nichts über seinen Zustand verlauten lassen, ich fragte mich, wie seine letzte Stunde gewesen sein mochte. Ich schaute Fernsehen und dachte dabei an Unseld, ich war fassungslos, geängstigt, konnte mich nicht zum Zubettgehen entschließen, vermutlich kam ich mir verlassen, im Stich gelassen und ausgesetzt vor, so etwas, er muß also schon eine Vater- und
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