Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
dich gewartet. Er schließt sie in die Arme. Nie wieder werde ich dich lassen, du Veilchenvoll, du Schönes. Und sieh, was ich für dich aufgehoben habe. Er reicht ihr ein Ding, von dem man nicht recht weiß, was es ist. Es ist DAS FELL DER FORELLE. Dann führen ihn die Wärter ab. Vielleicht geht es aber auch ohne Wärter, und zwischendurch, auch wenn er mit Brisa zum Beispiel ausgeht, spinnt er insgeheim seine andere Geschichte des Stolp »Ich stamme aus dem Geschlecht der Stolp« weiter. Er könnte auch eine Version von Serrazzano als vereinigtes Leben oder Leben der Vereinigten, ein Wunschleben ausbreiten.
Ist der Packen das Schuldgefühl des Mörders? Irgendwie hat die Situation des protokollierenden Mannes in der Forelle mit dem von Brando gespielten Versager in Bertoluccis Last Tango und dessen Versagensschuld (an der Liebe) zu tun. Müßte überprüft werden. Die Szene und das Gespräch am Totenbett der Frau.
Über den Tod und in die Jahre.
Die vergangene Woche um Weihnachten mit Besuch von Valérie und dem langen Nachmittag bei Handke, dem einsamen Tag des heiligen Abends – Besuch in Saint-Julien-le-Pauvre und Notre-Dame und dem Blumenmarkt neben der Préfecture de Police. Anderntags bei Malika und vordem bei Colette und Jean-Baptiste … diese sehr, sehr traurige Woche hat offenbar endlich den Stein des Erzählens ins Rollen gebracht oder die Blockade aufgesprengt. Mit Valérie sowie bei Handke und Colette waren oder liefen lauter Bekenntnisse ab. Es war die Woche des Bekennens. Viel gelitten.
Jetzt freue ich mich auf Bern. Silvester bei meiner Schwester. Elisabums hat angerufen und mich aufgefordert, nach Lunki zum Schreiben und Aufgepäppeltwerden zu kommen. Vielleicht gar keine schlechte Idee. Bin ja mehr als schon einmal im Lunki vor Anker und in Deckung gegangen. Der Anruf ein gutes Omen.
2003
April 2003, Paris
Und was die Forelle anbelangt, so handelt es sich natürlich um Odile, die Geliebte, die mir immer entwischt ist, nie zu halten war, nicht zu bergen, nur in totem Zustand zu besitzen. Und was das Fell betrifft, so entspricht dieses Bild meinem Verlangen, sie einzuhüllen, zu beschützen, zu wärmen und zu pflegen – zu domestizieren? War das der Fehler? Kann man eine Forelle heiraten?
5. Juni 2003, Paris
Erste Anzeichen physischer Erleichterung nach dem langen gesundheitlichen Knockout. Auch die ischiasähnlichen Beschwerden beim Gehen nehmen sichtlich ab dank der physiotherapeutischen Behandlung. Es ist ein Aufwachen. Vermutlich hatte mir die Scheidung »auf den Magen geschlagen«. Wie ja auch Valérie letzten Sonntag bei einem Überraschungsbesuch zusammen mit Leonid meinte. »Diese Utopie, Leben und Buch engzuführen, ist ein Autorentraum: Nizon bleibt in der Literatur, wohingegen heute viele autofiktionale Autoren sie verlassen, um sich der reinen Performance hinzugeben.« Und: »Den Versuch, tatsächlich der Autor Paul Nizon zu werden, mußte der zivile Paul Nizon mit seiner Person bezahlen: gar nicht leicht, der eigenen Vorstellung zu genügen …« So in einem großen NZZ -Beitrag über Autofiktion in Frankreich mit Titel »Die Fallen der Vorstellungskraft« von Ivan Farron (Universität Zürich). Das Interessante in dem Aufsatz, der mich in einen Zusammenhang mit Doubrovsky, Roland Barthes, Robbe-Grillet, Lacan, Derrida … stellt, ist meine selbstverständliche Integration in einen rein französischen Literatur-Diskurs. Ich bin effektiv in die französische Literatur eingegangen und insofern eine leuchtende Ausnahme. Das ist immerhin gelungen und müßte von Suhrkamp entsprechend zur Kenntnis genommen werden.
7. Juni 2003, Paris
Vorgestern in der Sorbonne, in der von Sorg organisierten Soirée über das Bild der Schweiz in Frankreich und umgekehrt mit Jean Ziegler, Michel Contat, Todt, Jürg Altwegg, Vertretern der Zeitungen Le Monde und Le Temps , die ihre Statements abgaben und diskutierten, und dies vor vollem Saal, einem wundervollen, ehrwürdigen Sorbonne-Saal, hätte ich im Gegenzug von Tourniers »Liebeserklärung an die Schweiz«, einem für den Anlaß verfaßten kleinen Text, der auflag und von den Zeitungen reproduziert wurde, etwas über mein Frankreichbild beisteuern sollen, was ich schließlich sein ließ, es fiel mir nichts ein, weil ich es lebe …
Und jetzt will ich schnell versuchen, darauf zurückzukommen: Was macht die nach wie vor anhaltende Zustimmung zu dieser Wahlheimat aus? Denn eine solche ist es, ich merke es, wenn ich weg
Weitere Kostenlose Bücher